Algen und Vergebung #4

1

Mir hat mal ein älterer Mann (jedenfalls viel älter als ich) gesagt: ‚Weißt du, Boris, was sich ändert, wenn man älter wird? Man sieht die langen Bögen der Geschichte.‘ Das habe ich natürlich erstmal nicht geglaubt. Viel zu oft habe ich erlebt, dass ältere Menschen sich selbst überhöhen in einer Zweifellosigkeit, die ich nicht kenne von meiner Generation. Die verstehen genau so wenig wie wir, aber sie sind viel überzeugter davon, dass sie recht haben. Unangenehm. Aber diesmal war es anders.

Die langen Bögen der Geschichte. ‚Was meinst du damit?‘

Man habe einfach andere Referenzpunkte. Man sehe Entwicklungen, von denen man gar keine Ahnung haben konnte, als man jünger gewesen sei.

Und so wie ich das gehört habe, bin ich selbst ein bisschen alt geworden. Und habs überall gesehen. Die langen Bögen der Geschichte. Eh, auf die Demo gehe ich nicht, die läuft seit 10 Jahren gleich ab und es gibt überhaupt keine Entwicklung da. Oh, diese kleine Sache, die andere Leute übersehen, die ist ja wirklich gut und neu. Ja, diese Kritik ist berechtigt, es ist ziemlich schlimm, aber früher wars noch so viel schlimmer.

2

Meine Familie hat eine erstaunliche genetische Eigenschaft. Sie hat perfekte Körper. Ja, sie sehen nicht so aus. Aber es sind Körper, mit denen man 100 Jahre alt wird. Da ist kaum Krebs, kaum Herzprobleme, mein Blutbild und Körperbau sind bei meinem Lebensstil eine medizinische Sensation. Niemand in der Kernfamilie hatte Corona, ich hatte in den letzten 15 Jahren 2 schwere Erkältungen, durch die ich je 1 Tag nicht zur Schule/ Uni gehen konnte.

Es gibt da nur ein Problem. Nicht alle Leute aus meiner Familie werden 100. Fast niemand ist 100 geworden. Denn, die Physis ist gut, aber die Psyche nicht bereit. Die, die nicht 100 werden, sterben alle an Depressionen, Sucht oder stressbedingten Geschwüren in meiner Familie. Transgenerationale Traumata, traumatische Kindheiten, Flucht, depressive Eltern, der Onkel, der säuft etc. Es ist immer das gleiche. Der lange Bogen Geschichte. Es kommt drauf an, wo man herkommt. Keine Beerdigung ohne psychische Krankheit, niemand, den ‚ich nicht mehr kennenlernen konnte‘ ohne psychische Krankheit. Und ganz gewiss auch ich: nicht ohne psychische Krankheit.

3

Worauf will der Mann hinaus jetzt? Ich sag es euch.

Ich bin siebenundzwanzig, ich bin Künstler und depressiv. Und das Ärgerlichste ist passiert: seit ich vergangenes Jahr Geburtstag hatte, schwirren sie mir im Kopf rum. Ihr wisst, wer. Janis Joplin, Jim Morrison, Jimi Hendrix, Kurt Cobain, Amy Winehouse. Und ich mag die auch alle noch.

Es ist so dumm. Es ist so peinlich. Es ist, als ob irgendwo was lauert.

Doch das ist nicht das Schlimmste. Das Schlimmste ist die Gesellschaft, wie immer. Denn der Grund, dass der 27 Club so ein mysthisch aufgeladenes Ding geworden ist: Seit jeher denken Menschen, dass man leiden müsse, um Kunst zu machen. Ich kenne mich aus mit Leid und Kunst und ihr müsst jetzt ganz stark sein: Die Platten von Nirvana sind nicht deshalb gut geworden, weil sich Kurt Cobain vor dem Songwriting einen Druck gesetzt hat.

Und trotzdem: Keine Doku über Winehouse, ohne, dass jemand versucht, einen Zusammenhang zwischen Leid und Kunst herzustellen. Wenn sie nicht so gelitten hätte, dann wäre die Musik scheiße, ist im Grunde genommen, was ihr sagt.

Sagt mal, gehts noch? Was wollt ihr eigentlich? Dass die Leute mit Ende 20 sterben, die ihr gut findet? Weil ja schon ein bisschen was Verrücktes dabei ist, wenn man Künstler*in im Kapitalismus ist und man sich das irgendwie erklären muss?

Eigentlich ist es genau andersherum. Nicht die Krankheit löst die Kreativität aus, sondern allenfalls die Bekämpfung der Krankheit. Wenn man in Behandlung war wegen psychischer Krankheit, lernt man z.B. Wie man aus einer sehr erregten Lage wieder rauskommt. Und ich weiß, dass mir dann hilft, wenn ich mich an die Gitarre setze und die Saiten dresche. Oder schreibe. Tagebuch. Hauptsache Schreiben. Wer schreibt, der bleibt.

Dennoch: Für einen Depressiven ist es so, so, so verlockend zu denken: wenn ich die Depression bekämpfe, ist meine Kreativität weg und ich werde ein langweiliger und uninteressanter Mensch. Denn natürlich gehört es zum Krankheitsbild, dass irgendwas in einem es gut findet, depressiv zu sein.

Lasst doch bitte die Depressiven in Ruhe mit dem 27 Club. Hört lieber ein Album von Nirvana.

4

In ein paar Stunden bin ich achtundzwanzig, am 19. Mai. Dann passieren 2 Dinge: Erstens ist es fast wie eine Wiedergeburt, man hat den Mythos 27 endlich überlebt, man hats geschafft. Zweitens bin ich dann offiziell alt.

Dann werde ich der sein, der Leute in der Bahn auffordert, für mich aufzustehen. Ich werde der sein, der zu langsam über die Straße schlendert, der rücksichtslos im Supermarkt seinen Wagen durchschiebt und stehen bleibt vor dem Regal, egal, wie viele Leute da jetzt noch ranwollen. Ab morgen bin ich der, der Ahnungslosigkeit vortäuscht, um irgendwas nicht zu bezahlen und ganz sicher bin ich dann der, der euch von den langen Bögen der Geschichte erzählt.

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