Diese Kolumne hat diverse Versionen durchgemacht. Es sollte um Russland gehen.
In einer Version habe ich versucht, möglichst kreative Beleidigungen für die Wichser in der russischen Regierung zu finden (zum Beispiel: Sergei Lavrov, der Außenminister: 1,88m Incel-Power im Körper eines 72-jährigen hinter der randlosen Brille eines CDU-Politikers aus Ostwestfalen. Droht gerne Großbritannien mit Vernichtung und möchte, dass niemand weiß, dass seine eigene Tochter mit 21 Jahren ein kleines Häuschen im beschaulichen London für 4,5 Millionen Pfund gekauft hat und das ganz sicher nicht gegen einen Platz im Bunker tauschen würde).
Eine andere Version der Kolumne war, Fakten aufzuzählen über Russland (Einer davon: in Deutschland gibt es alle 72 Stunden einen Femizid1. In Russland gibt es in 72 Stunden so viele Femizide wie in Deutschland in einem Jahr), um zu zeigen, was eigentlich das Problem wäre, wenn demokratische osteuropäische Staaten nicht Teil von Russland werden wollen.
Ich wollte eine Kolumne aufschreiben, die ausschließlich Kriegsverbrechen in der Ukraine aufzählt, die nur in dieser Woche entdeckt wurden (zum Beispiel: im Donbass werden systematisch ukrainische Männer entführt und dazu gezwungen, für Russland gegen die Ukraine zu kämpfen), um zu zeigen, was für ein absoluter Wahnsinn da passiert und in was für einem Tempo dort Kriegsverbrechen aufgedeckt werden.
Ich wollts satirisch machen, ich wollte es faktisch machen, doch die Wahrheit ist: Das ist mir alles zu groß. Das schaffe ich nicht. Ich sage nur so viel: Ich hasse wieder richtig. Und ich habe Scheißschmerzen, dass ich nie in Russland leben und nie die Ukraine besuchen kann. Weil das alles zu groß ist, was jetzt passiert.
Stattdessen habe ich mir eine kleinere Geschichte gesucht, bei der ich auch was gefühlt habe, aber nicht den großen Weltschmerz und nicht Hass, sondern: Ich hatte das Gefühl, jemanden verstanden zu haben. Und ich wollte unbedingt über Russland schreiben.
Aber erst: ein wenig russische Geschichte
In Russland gab es Ende der 90er/ Anfang der 00er im Pop eine Entwicklung, die sich optisch und musikalisch an queeren Musiker*innen aus dem Westen orientiert hat. Zu dieser Zeit haben sich auch einige der russischen Künstler*innen geoutet. Die Darstellung nicht-heterosexueller Sexualität war überall. Tatu (All the things she said, ihr erinnert euch) war sogar eine gecastete Band, weil man zu dem Zeitpunkt dachte, das kommt bei den jungen Leuten bestimmt gut an.
Im Laufe der 00er und spätestens der 2010er Jahre ist dann in Russland etwas passiert, was ich so überhaupt nirgendwo gesehen habe: Das Land ist so gewaltig in Scheiße gesunken, dass die ganzen geouteten Pop-Künstler*innen sich ‚entoutet‘ haben (es gibt keinen Begriff dafür, weil sowas eigentlich nicht passiert) oder aus der Öffentlichkeit verschwunden sind.
Was macht ein Land, in dem es keine öffentlich geouteten Menschen mehr gibt? Es verabschiedet ein Gesetz, dass ‚Homosexuellen-Propaganda‘ verbietet (ihr habt bestimmt davon gehört). Ein schwammiges Gesetz, bloß zur Einschüchterung, damit weiter nichts öffentlich stattfindet.
Es ist jetzt das Jahr 2022. Im Juni hat sich die Fußballerin Nadeshda Karpova, die in Spanien lebt, als lesbisch geoutet. Seit Juni 2022 gibt es also auf dem Planeten Erde wieder eine russische Person öffentlichen Lebens, die offen homosexuell ist. Das ist aber an mir vorbeigegangen, denn ich interessiere mich nicht für Fußball.
Ich interessiere mich aber für Tennis. Und seit Montag gibt es zwei offen lesbische russische Frauen, die in der Öffentlichkeit stehen. Denn Daria Kasatkina, Nr. 12 im Frauentennis und damit bestplatzierte russische Spielerin, hat sich ebenfalls geoutet. Wenn Leute Kasatkina beschreiben, fallen immer Worte wie ‚Spielwitz‘, ‚Kreativität‘, sie ballert nicht die Kugel, sie spielt ihre Gegenerinnen aus. Und dann ist sie auch nicht die große Fäusteballerin, sondern irgendwie lakonisch. Fand ich immer sehr sympathisch, erinnert mich an meine Schwester.
Und nun, diesen Montag, hat der russische Blogger Viktor Kravchenko ein 1-stündiges Video veröffentlicht. Da besucht er in Barcelona Kasatkina und Andrey Rublev, einen russischen Top 10-Spieler im Männertennis und filmt sie beim Training, lässt sich von ihnen Barcelona zeigen und interviewt sie zwischendurch. Überwiegend geht es darum, wie sie es empfinden, dass russische Tennisspieler*innen von einigen Turnieren ausgeschlossen wurden, aber auch um persönliche Sachen: Kravchenko ist nämlich mit beiden befreundet.
Mitten im Video spricht der Blogger mit Kasatkina über die russische Fußballerin und Kasatkina outet sich selbst als lesbisch.
Irgendwann gehen die drei zusammen auf ein Armin van Buuren-Konzert in Barcelona und dann begleitet Kravchenko Kasatkina am Tag danach nochmal beim Training, diesmal verkatert. Das Video endet mit einem kleinen Interview beim Trainingsplatz. Er fragt Kasatkina: ‚Glaubst du, dass du jetzt überhaupt wieder nach Russland darfst?‘ Sie antwortet nicht. Sie fängt an zu heulen und vergräbt sich in seine Arme. Das Video ist vorbei. Fertig, aus. Jetzt heule ich auch. Das war es, das bisschen Menschlichkeit. Ich habe das Gefühl, Daria Kasatkina verstanden zu haben.
Am gleichen Tag postet Kasatkinas Freundin ein Selfie von sich und ihrer Freundin, Überschrift: ‚Mama, ich bin ne Kriminelle‘.
Offensichtlich bin ich weder lesbisch noch würde ich nach Russland zurückkommen, aber mir geht das radikal ins Herz.
Ein paar Stunden vor Erscheinen des Videos haben Abgeordnete des russischen Parlaments einen Gesetzesvorschlag eingebracht, die ‚Homosexuellen-Propaganda‘ zu konkretisieren. Wer sich öffentlich ‚positiv‘ oder ’neutral‘ über LGBTQ-Beziehungen äußert, kommt in den Knast. Fertig, aus.
1Femizid meint: eine Frau, die von ihrem Partner oder Ehemann getötet wird
Schöner Beitrag, ich habe ihn mit meinen Freunden geteilt.