Algen und Vergebung #17

In Sachsen gehts in den vergangenen Wochen mal wieder rund. Udo Witschas (CDU, Landrat Bautzen) bezeichnete in einer Weihnachtsansprache alle Einwanderer grundsätzlich als Gefahr für den öffentlichen Frieden, bevor er den Zuhör*innen ‚Frohe Weihnachten‘ wünschte, im süß klingenden Kriebethal gibt es faschistische Demos, die größer sind als die Zahl der dort lebenden Menschen und die Kriebethaler*innen sind begeistert darüber, der Meißner Landrat kann keinen Ort in seinem ganzen Wahlkreis finden, der bereit wäre, auch nur einen einzigen Geflüchteten aufzunehmen.

Eigentlich geht es in Sachsen seit Jahrzehnten rund.

1992 kam meine Familie nach Europa und Deutschland sollte es sein, meine Großtante lebte schließlich schon hier. Saumagen- Fan Helmut Kohl (CDU) und seine Bundesrepublik hatten eine Aufteilungsquote innerhalb der Bundesländer für Einwander*innen eingeführt, und meine Eltern bekamen einen Brief mit dem ihnen zugewiesenen Bundesland: Brandenburg.

Meine Eltern haben mir erzählt, nach dem Brief wurde erstmal geheult, denn der einzige Gedanke bei dem Wort ‚Brandenburg‘ war: Die bringen uns da um.

Ganz genau. Es hat sich nämlich weit über die Oder hinaus rumgesprochen, dass Brandenburg eine lebensfeindliche Region war, genau genommen mindestens bis Bischkek, 5500km von Potsdam entfernt. Man kann auch sagen: Die Nazis hatten gewonnen, wenn selbst Einwanderer*innen dort nicht hin wollen. Meine Eltern kamen letztlich bei meiner Großtante weit weg von dem zugewiesenen Bundesland unter und weder mein Vater noch meine Mutter waren jemals in Brandenburg. 2 Ärzte weniger, woher kommt noch mal der Ärztemangel?

Doch seit 1992 hat sich dort einiges getan. Potsdam wächst proportional schneller als alle (!) anderen Großstädte in Deutschland, 7 von 14 Landkreisen wachsen, Elon Musk und das Land Berlin bauen dort große Projekte hin, Olaf Scholz und Annalena Baerbock haben dort ihre Wahlkreise, am Flughafen BER gibt es im Duty Free- Bereich einen Spreewald- Shop und es ist nicht einmal peinlich. Selbst ich habe mich in Brandenburg immer recht wohl gefühlt. Anders gesagt: Brandenburg ist fast ein bisschen cool geworden, jedenfalls ist es nichts mehr, was man meiden muss (Ausnahmen bestätigen die Regel, looking at you, Cottbus und Königs- Wusterhausen, genannt Kaweh).

Es gab 1992 genau 2 Bundesländer, bei denen meine Eltern ‚Die bringen uns da um‘ gedacht hätten und das Zweite davon war, natürlich, der Freistaat Sachsen. Auch von dort wehten die Geschichten bis nach Zentralasien von brutalen Menschenhassern, die so wenig von der restlichen Gesellschaft sanktioniert werden, dass meine Eltern sofort in ernsthafter Lebensgefahr wären, wenn sie dort ankämen.


Die Geschichten in den letzten Jahren aus Sachsen sind jedoch andere als die aus Brandenburg.

Da gibt es die Geschichte vom ‚Reisegenuss‘- Bus. Ein Großteil der Bewohner*innen von Clausnitz hat sich 2016 rund um einen neu angekommenen Bus voller kriegstraumatisierter Frauen und deren Kinder gestellt und sie angeschrien, dabei zugesehen, wie die Leute innerhalb des Busses Nervenzusammenbrüche davon bekamen, und danach einfach weiter anschrien.

Da gibt es die Geschichte von Arnsdorf. Dort hat eine selbsternannte Bürgerwehr einen psychotischen Geflüchteten mit Kabelbindern an einen Baum gefesselt und rassistisch beleidigt, nachdem dieser im Supermarkt gestohlen hatte, bis die Polizei vorbeikam und sich im Lob über die Bürgerwehr ergoss.

Man hätte natürlich den Mann auch einfach anzeigen können, das war jedenfalls die Idee der Bürgermeisterin von Arnsdorf, Martina Angermann, die sich nicht in die Schlange der Gratulant*innen an die Bürgerwehr einreihen wollte. Sie ist dafür über Monate so intensiv von ihren eigenen Wähler*innen bedroht worden, dass sie nicht nur ihren Posten aufgab, sondern solche psychischen Schäden davon nahm, dass sie nun Frührentnerin ist.

Da gibt es eine Geschichte aus Dresden, die ich im Zuge der Kolumne recherchieren wollte, und musste feststellen, dass es gar nicht die ‚eine‘ Geschichte gibt. Gebt in die Suchmaschine ‚Dresden Kind verletzt rechtsradikal‘ ein und zählt selbst, wie oft dort erwachsene Sachsen Kindergartenkinder mit Migrationshintergrund auf offener Straße physisch angegriffen haben. Genau, erwachsene Männer schlagen Kindergartenkinder aus rassitsischen Motiven am helllichten Tag. In Dresden keine einmalige Sache.

Nur noch ein Beispiel, ok? 2016 haben besoffene, erwachsene Männer minderjährige Geflüchtete durch Bautzen gejagt, und die Reaktion der Stadt war, die Geflüchteten zu bestrafen. Da gab es einen Talkshowauftritt des damaligen Generalsekretärs der sächsischen CDU, dort wurde er gefragt, warum denn die Verantwortung für die Ausschreitungen bei den Minderjährigen abgeladen würde, woraufhin er sinngemäß sagte, man brauche nicht über das Alter zu reden, denn in den Ländern, aus denen die Geflüchteten kämen, seien die Kindheiten so hart, dass die Menschen früher erwachsen werden als Deutsche. Bis heute hält diese Aussage für mich den Rekord der meisten verschiedenen Ebenen, auf denen sie falsch ist. Lest euch die Aussage nochmal durch. Sie ist ein Abgrund. Wer der Generalsekretär der CDU damals war? Die Vollknalltüte Michael Kretschmer, mittlerweile zum Ministerpräsidenten des Freistaats aufgestiegen. Ich kann mich daran erinnern, nach dieser Aussage gedacht zu haben: Dieser Mensch ist schlecht genug, dass die Sachsen ihn wählen werden.

Ich bin felsenfest davon überzeugt: Es gibt auch heute noch einige Einwander*innnen, die denken sich bei dem Brief, dass ihnen eine Unterkunft in Sachsen zugeteilt wurde: Die bringen uns da um. Es hat sich während meiner ganzen Lebenszeit rein gar nichts verbessert.

Wozu erzählst du das alles, Boris? Nun, ich wohne hier auch, in Sachsen, in diesem Herbst seit 10 Jahren, und immer nur die Fresse dazu zu halten oder fatalistisch zu werden, wie es in linken Kreisen häufig der Fall ist, das kann ich auch nicht durchziehen.

Ich sags schnell zwischendurch: Ìch habe keine Ahnung, wie sich das alles ändern soll hier.

Ich möchte nur allen hier in Sachsen sagen: Guckt euch die Scheiße doch mal an! Alle Regionen (außer um Leipzig und Dresden- Stadt) verlieren Einwohner*innen, ganz besonders junge Frauen.

Es gibt viele wunderschöne Städte hier, weil sie (anders, als die vielen Nazi- Gedenkveranstaltungen vermuten lassen) gar nicht so stark bebombt wurden, es gibt Altstädte hier und Altbauten! In NRW gibt es das nur in Dörfern, die allen egal sind. Die sächsische Schweiz ist ein wunderschönes Gebirge, es gibt Weinbauregionen hier in Sachsen, es gibt Theater in jeder verschissenen Kleinstadt. Wisst ihr eigentlich, wie besonders das ist? Und trotzdem wollen alle hier nur weg.

Die einzige Stadt mit einem einigermaßen guten Ruf ist Leipzig und siehe da, es ist die am schnellsten wachsende Stadt in der Größenordnung in Deutschland (bald werden die unsympathischen Geldstädte Düsseldorf und Stuttgart überholt), es wäre also möglich, dass sich jemand für Sachsen interessiert und das hier nicht einfach alles ausstirbt.

Ich mein, das kann doch nicht wahr sein, dass Leute lieber zum Beispiel nach Niedersachsen ziehen wollen, eine gottverlassene, platte Agrarwüste, in der das Grundwasser ruiniert ist wegen der ganzen Schweinescheiße aus der Fleischproduktion, die auf die Felder gekippt wurde. Da sieht die Bevölkerungsentwicklung ganz anders aus als hier. Da wollen die Leute lieber leben als in Sachsen.

Liebe sächsische Mitbürger*innen, es liegt an uns, dass hier niemand sein will.

Ja, es gibt auch ökonomische Umstände usw, aber fahrt mal ein paar Kilometer weiter nach Osteuropa, und guckt mal, was die alles drauf haben mit ihren ökonomischen Möglichkeiten.

Ich möchte noch lange in Leipzig wohnen bleiben, und das bedeutet nun mal, noch lange in Sachsen wohnen zu bleiben. In den letzten 30 Jahren hat sich nichts getan, aber vielleicht sieht es ja in 30 Jahren ganz anders aus. Keine Ahnung, wie es dann ist, Utopien kann ich mir nicht vorstellen, aber wenigstens könnte man ja mal aufhören, bedingungslos an dem Ruf zu arbeiten, man sei ein sicherer Hafen der Bornierten und der Gewalttätigen. Denn momentan weiß es die ganze Welt: in Sachsen geht es rund. Da bleib ich lieber, wo ich bin.

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