Algen und Vergebung #18

Dies ist eine Geschichte der kleinen Dinge. Eine kleine Zeile auf einer Steintafel in Bischkek, eine kleine Frage in einem Podcast, ein kleines bisschen Sehnsucht und vor allem: Eine Geschichte über ein kleines Land.

Wikipedia sagt, dort lägen 90% des Landes auf einer Höhe von über 1500m. Ein Drittel sei dort mit Gletschern bedeckt. Dort sei der größte Walnusswald der Welt. Meine Eltern sagen, sie hätten sich dort kennengelernt. Sie seien dort aufgewachsen.


Ich war einst bei einem Podcast, er heißt *Storytime, damals gemacht von Paula Charlotte Kittelmann und Fabian Ajaj1. Da durfte ich einen Text lesen über Herkunft und Atommüll und die beiden haben mich ausgefragt über ebendiese Themen. Eine Frage ist an mir kleben geblieben: Ob das Land, in dem meine Eltern aufgewachsen sind, ein Sehnsuchtsort für mich sei? Meine Antwort war: Nein. Natürlich war das meine Antwort. New York City, Tel Aviv, das sind Sehnsuchtsorte, zu diesem kleinen Land in Zentralasien, aus dem meine Eltern sind, da kann ich urbaner, linker Typ doch keine Sehnsucht haben.

Was haben die mir nur für Flausen in den Kopf gesetzt? Nach der Aufnahme war ich unzufrieden mit der Antwort. Warum sollte ich das nicht wissen wollen, Kirgistan, wie es aussieht, wie es riecht, was die Leute tragen? Ich wäre doch gerade der, der das wissen wollen müsste. Wen sollte das denn noch interessieren?

Der Podcast war vor 3 Jahren, und es scheint: Seitdem ist einiges passiert.

Im Februar letzten Jahres begann der Krieg gegen die Ukraine. Ich habe russische Familienmitglieder in Russland, ich habe ukrainische Familienmitglieder in Kanada und in Deutschland, ich habe russische Familienmitglieder in der Ukraine und auch ukrainische Familienmitglieder in Russland. Ich habe Familienmitglieder bei der russischen Armee (tschüss). Eine Familie also, die ohnehin schon wie eine vom Winde verwehte Saat auf der Nordhalbkugel lebte und nun wurden noch Trennwände dazwischen aufgebaut.

Das Ganze ist so groß und so überwältigend, dass man bei uns in der Familie nicht sagt ‚wegen des Krieges‘, sondern сам знаешь почему (dt. weißte selbst, warum). Сам знаешь почему ist der Grund, dass ich nun auch Familienmitglieder in Serbien, Zentralasien und dem Kaukasus habe, denn während Menschen aus der Ukraine die Flucht in den Westen möglich ist (und der Ausdruck ‚möglich‘ trägt hier wirklich alle Probleme, die damit verbunden sind), kriegt man als Russe kein Visum hier. Ohne Visum gibt es aber als junger Mann in Russland gefühlt nur 2 Optionen: Entweder man hat Glück und wird Kanonenfutter oder man geht als Schänder und Kriegsverbrecher in die Menschheitsgeschichte ein. Jedenfalls muss man mit seiner dummen Z- Swastika in die Ukraine reinrollen.

Und so sind die ganzen Söhne in meinem Alter raus aus Russland nach überall, wo man hinkann. Ein Land, welches sich ganz besonders viele ausgesucht haben? Kirgistan. Ein Phänomen so groß, dass die Zeit und die New York Times darüber berichtet haben. Denn das Land begrüßt explizit die meist gut ausgebildeten, jungen Männer. Die Bars der Hauptstadt und Heimatstadt meiner Eltern, Bischkek, sind besser gefüllt als eh und je, Leute auf den Straßen, die sich einleben müssen und daran scheitern und es wieder versuchen, es ist ein Ort der Hoffnung.

Es stellt sich heraus: das ist in den vergangenen Jahren gar nicht das erste Mal, dass Kirgistan Anlaufpunkt für Leute aufgrund einer gewaltigen Krise ist. Kirgistan war nämlich eines der ganz wenigen Länder, die explizit angeboten haben, 2021 Geflüchtete aus Afghanistan aufzunehmen, nachdem die Taliban die Macht wieder übernommen hat. Gut, das Angebot galt nur Studentinnen und es sind auch nur eine Handvoll Frauen da hingekommen, aber weißgott war das mehr, als die geliebte Bundesrepublik gemacht hat.

Schon vorher lebten und leben in Kirgistan einige vertriebene Minderheiten. Direkt über der Grenze nach China ist die ‚autonome‘ Region der Uiguren, und viele Uigur*innen leben in Kirgistan, aus dem einfach Grund, dass sie dort nicht in Umerziehungslager gesteckt werden und ihre Identität ausrotten lassen müssen. Im 19. Jahrhundert kamen bereits die Dunganen aus Südchina nach Kirgistan, ebenso Vertriebene, der allergrößte Teil dieses kleinen Volkes lebt heute in Kirgistan. Meine Familie erzählt, die dunganische Küche sei die beste der Welt.

Und auf einmal ist so ein urbaner, linker Typ wie ich angefixt.

Warum ist denn eine Stadt wie New York City ein Sehnsuchtsort? Weil es ein Ort derer ist, die woanders nicht reinpassen, der Außenseiter, der Minderheiten. Das klingt ja gar nicht mehr so anders als Bischkek heute.

In den letzten 3 Jahren ist einiges passiert. Nur ein halbes Jahr nach meinem Podcast- Auftritt bei *Storytime ist die Protagonistin des dortigen Textes gestorben: Meine Mutter. In Deutschland nie richtig angekommen und schon so gut wie vergessen, ist in Kirgistan was ganz anderes passiert. Die medizinische Fakultät der Uni in Bischkek hat nämlich 2021 eine gigantische Tafel aufgestellt, dort eingeritzt Name und Abschlussjahr aller Student*innen, die dort jemals ihr Medizinstudium mit Bestnote abgeschlossen haben. Ihr wisst, wer dabei ist: Meine Mutter. Ich kann es nicht anders sagen: Sie haben ihr ein Denkmal gebaut.

Bleibt nur noch, über meinen Vater zu reden. Denn in ihm ist die Sehnsucht überbordend. Die Sehnsucht nach Identität, seine beste Freundin und Frau ist weg, seine Familie lebt in Russland und er kann sie nicht sehen. In den Skype- Gesprächen tun die Leute so, als ob sie nicht davon getroffen sind, dass ihre Söhne abgehauen sind und vielleicht nie wieder kommen. Er hätte sich selbst als Russe beschrieben bis vor ein paar Jahren, doch der Krieg hat dafür gesorgt, dass man sich vor der Identität ekelt. Niemand will mehr Russe sein, der bei Verstand ist. Mein Vater auch nicht. Ich kann das verstehen. Er sagt ‚ich habe doch nie da gelebt‘. Das stimmt auch. Der Mann muss nach Kirgistan, er bereut, dort so lange nicht gewesen zu sein. Und ich will mit.

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