OK, ihr Lieben. Einatmen, ausatmen. Heute muss es mal eine Kolumne geben, warum alles noch viel schlimmer ist, als es sowieso schon aussieht.
Im September 2008, wenige Wochen nachdem ich konfirmiert wurde, wenige Wochen, bevor Barack Obama zum ersten Mal zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt wurde, als Katy Perry mit ‚I Kissed A Girl‘ auf Platz 1 der Charts in Deutschland war, die ‚Ehe für alle‘ aber noch ein utopischer Traum der gesellschaftlichen Außenseiter*innen war, in diesem September gab es eine Landtagswahl in Bayern. Und die lief überraschend! Denn eine dubiose, lokale Kleinpartei schaffte den Einzug ins bayrische Parlament. Die Freien Wähler. Mit an vorderster Front: Hubert Aiwanger, gefeierter Vorsitzender des bayrischen Verbandes. Die folgenden 15 Jahre waren eine steile Aufstiegskurve. 2010 wurde der Bundesverband gegründet, auch dort wurde Aiwanger Vorsitzender, seitdem saßen die FW immer immer im bayrischen Landesparlament, mittlerweile auch in Rheinland- Pfalz und im Europaparlament, seit 2018 regieren sie sogar mit der CSU mit und immer noch ist Aiwanger Parteivorsitzender.
Wieso erzähle ich das alles? Wir leben in einem Land, in dem es ja Journalismus gibt, die verdeckte Geschichten aufzudecken versuchen, besonders von Politiker*innen. Ein Land, in dem es ‚Opposition Research‘ gibt, wo also Parteien versuchen, Scheise über die Politiker*innen anderer Parteien zu finden und zu publizieren und wo man das insbesondere dann macht, wenn man überlegt, mit einer Partei eine Koalition einzugehen, liebe CSU. Was bei dem Saufhaufen los ist: Thema einer anderen Kolumne.
Trotzdem hat es unglaubliche 15 Jahre seit der ersten Wahl Aiwangers ins Parlament gedauert, bis irgendjemand Scheise gefunden hat. Und die Scheise, die knallt richtig!
Hier nochmal kurz die Vorwürfe: Beim 17- jährigen Hubi Aiwanger seien lupenreine Neonazi- Pamphlete im Schulranzen gefunden worden, die er auf der Schultoilette verteilt habe (zugegeben: ein guter Ort für Scheise). Seine Mitschüler*innen können sich alle an ständige Hitlergrüße erinnern, an einen bestimmten Witz, den er beim KZ- Besuch erzählt hat und, dass der kleine Hubi stolz geprahlt habe, er trage in seinem Schulranzen ‚Mein Kampf‘ (unkommentierte Version) mit sich herum.
Puh. Das ist alles schlimm, schlimmschlimmschlimm sogar.
Aber seit die Süddeutsche Zeitung vor einigen Wochen erstmals darüber berichtet hat, geht es nur noch rund in Deutschland. Denn Konsequenzen für Aiwanger bleiben aus, stattdessen geraten ganz andere Leute in Schwierigkeiten.
Bei einer unwichtigen Saufveranstaltung in einem alkoholschweißgetränkten, niederbayrischen Bierzelt trafen sich nun die Spitzen der CDU und CSU und redeten sich um Kopf und Kragen und Hubsi Aiwanger ist der Auslöser dafür.
Erwartet man das noch von dem abstoßenden Sauerländer Friedrich Merz, welcher unbedingt mal einen Rhetorikkurs besuchen sollte, so ist das von Markus Söder nicht unbedingt zu erwarten. Denn der meiner Meinung nach wichtigste Zyniker des 21. Jahrhunderts in der deutschen Politik ist eigentlich ein Meister des Lavierens. Heute denkt er das eine, morgen das Gegenteil, je nach Meinungsumfrage und tut immer so, als wäre er der konsistenteste Politiker der Gegenwart. Das ewige, selbstbewusste Lügen wird ihm mit Sicherheit einmal die Kanzlerschaft in Deutschland einbringen, aber bei Aiwanger, da kommt er nicht so richtig durch mit der Taktik.
Wie hat der Freie Wähler- Chef das gemacht?
Aiwanger hat ausschließlich vage Antworten auf die Vorwürfe gegeben, die sich gegenseitig alle widersprechen. Man könnte aus seinen bisherigen Aussagen interpretieren, er gebe das alles zu, habe sich aber geändert, er habe doch auch damals nichts gemacht, aber sein Lehrer war SPDler und seine Mitschüler*innen lügen alle, vielleicht habe sich auch die Süddeutsche Zeitung das alles ausgedacht. Während Söder, Merz, der deutsche Journalismus und auch ihr, liebe Kolumnenleser*innen nun herumsitzen, und versuchen, das alles zu dechiffrieren, ist Aiwanger schon längst einen Schritt weiter. Er redet mit seinen Anhänger*innen. Seine Aussage: Schmutzkampagne! Die gegen mich! Und die, die gegen mich sind, die hasst ihr doch auch! Jubel!
Moment mal, das hört sich doch alles ganz genauso an wie die Geschichte der politischen Karriere eines orangefarbenen Narzissten aus New York City!
Hubert Aiwanger ist der deutsche Donald Trump
Ich habe mich oft gefragt, wie lange es wohl dauert, bis es der klassische Trumpismus nach Deutschland schafft. Und wo genau er passieren würde? AfD? CDU? Nun haben wir die Antwort.
Keine Ahnung, ob Aiwanger das macht, weil er so schlau ist, oder, ob er so einen guten Instinkt hat, aber ich sags euch: Es wird funktionieren!
Aiwanger nutzt aus, dass der Nationalsozialismus im deutschen Bürgertum einen Scheiß aufgearbeitet wurde, die Erzählung aber die ist, dass das doch eigentlich perfekt gelungen ist. Es ist das klassische Tabuthema. Alle sind davon überfordert, keiner hat jemals mit Jüd*innen oder anderen Opfern des NS gesprochen im Bürgertum und in diese Lücke stößt Aiwanger rein.
Zukunfts- Kanzler Söder, als Beispiel, war völlig überfordert. Deshalb hat er Aiwanger medienwirksam 25 schriftliche Fragen zu den Anschuldigungen geschickt und ihm gleich noch eine Woche Zeit gegeben, diese zu beantworten. Die Fragen hätte er ihm nämlich nicht einfach so stellen können und entscheiden können, was er von ihm hält. Warum? Da gibt es die Möglichkeit, dass das Telekommunikationssystem in Bayern derzeit noch nicht vorhanden ist. Möglichkeit 2 ist, dass er eine Woche lang ne Antwort auf die Fragen zu Aiwanger hatte, nämlich: ‚Er muss jetzt den nächsten Schritt machen.‘ Außerdem konnte Söder praktischerweise abwarten, wie die Reaktion in der Bevölkerung ist und das dann nachplappern und als seine Position verkaufen. Das alles ist so durchschaubar und dumm, ich sags nochmal, die Deutschen werden den noch wählen.
Aiwanger ist den 25 Fragen dann ausgewichen oder hat sein lückenhaftes Gedächtnis als Begründung genutzt. Distanzierung, Entschuldigung, da gab es gar nichts. Immerhin hat er nicht ‚Sieg Heil‘ geschrieben.
Die Bevölkerung hat laut Einschätzung Söders so reagiert, dass doch alles super sei.
Und deshalb hat Söder nun verkündet, dass alles super ist und man auf gar keinen Fall mit den Grünen koalieren wolle nach der Landtagswahl, weil die sind schlimmer als Aiwanger. Jener solle mal eine KZ- Gedenkstätte besuchen und dann ist aber auch mal gut. Einige der entsprechenden Gedenkstätten haben aber schon gesagt, dass sie nicht wollen, dass Aiwanger sich auf ihrem Rücken rehabilitiert, zu deutsch: Dass sie mit dem Pisser nichts zu tun haben wollen.
Und nun? Während die anderen alle überfordert sind von der Situation, ist Aiwanger 3 Schritte weiter, gibt das Opfer, das von den Medien ungerecht behandelt wird, jedes Ressentiment wird bis zum letzten Tropfen gemolken. Guckt mal, was sie mit mir machen. Das könnte auch euch passieren! ‚Die gegen mich‘ ist das moderne, noch dümmere ‚Wir gegen Die‘.
Die nächsten Landtagswahlen in Bayern stehen nun ja wieder im Oktober an. Ich bin mir absolut sicher, dass die FW ein fantastisches Ergebnis einfahren werden (noch besser als bei der letzten Rekordwahl von 11,6%). Gestern erschien die erste Umfrage seit dem Skandal und die FW haben zugelegt, sind jetzt 2t-stärkste Kraft in Bayern.
So bleibt eine traurige Geschichte.
Die von tatsächlich versagenden Medien, die Aiwangers Vergangenheit erst nach 15 Jahren im Landesparlament versuchen aufzuklären und die Tatsache, dass sie nicht in der Lage sind, beim ‚eigentlichen‘ Thema zu bleiben: Warum Hitlergrüße schlecht sind (auch, wenn man 17 war) und wie man sich ernsthaft davon distanziert. Stattdessen wird ein Wortschnipsel nach dem anderen herausgeballert und der eigentlich wichtige Kern der Sache gerät in den Hintergrund.
Es ist auch die Geschichte des Bürgertums, deren Desinteresse und Ignoranz gegenüber einer tatsächlichen Beschäftigung mit dem NS ihnen vor der Nase explodiert.
Und eine Geschichte über das ganze Land eigentlich, dass sich jetzt fragen muss: Was machen wir jetzt eigentlich damit, wenn wir sehen, dass das Verhalten gar keine Konsequenzen hat? Werden jetzt Hitlergrüße scheißegal?
Hoffentlich nicht. Und ich sage das aus Sachsen, einem Bundesland, in dem nächstes Jahr auch das Landesparlament gewählt wird. Hier wird möglicherweise noch eine ganz andere Partei ein noch viel fantastischeres Ergebnis einholen. Eine Partei, die auf die 25 Fragen Söders womöglich wirklich ‚Sieg Heil‘ geantwortet hätte. Aber dazu dann beizeiten mehr.