Algen und Vergebung #36

Jahrzehntelang wollten einem Frauenzeitschriften, Gesundheitsorganisationen und klassische Scharlatane Diäten ans Herz legen, damit der Mensch endlich abnimmt. Das sei gut für den Kreislauf, für die Gesundheit im Allgemeinen und, gewiss nicht zuletzt, zur persönlichen Erfüllung von Schönheitsidealen. So gibt es Diäten ohne Fleisch, nur aus Fleisch, LowCarb, NoCarb, Intervallfasten, Verzicht auf Zucker, Verzicht auf Koffein, Verzicht auf Alkohol, Verzicht auf alles außer 4 Grapefruits am Tag. Das Problem war immer: Keine Diät hat so richtig funktioniert, es gibt keine, die bei allen Menschen, die sie gemacht haben, funktioniert hätte, und die Versuchung zum Rückfall (meine Güte, das Häagen-Dazs-Eis ausm TK sieht heute aber wieder sexy aus) war zu groß.

Diese Welt der Diäten zum Abnehmen, die nicht funktionieren, ist vorbei.

Denn: Es gbit seit kurzem eine Wunderdroge, sie kommt aus dem wunderlichsten Land der Welt, der USA. Ozempic. O-fucking-zempic. Alle Leute, die sich das spritzen, nehmen ab. Alle. Stellt sich heraus: Das Problem am eigenen Essverhalten sind nicht die Kohlenhydrate und ganz gewiss nicht die Tageszeit, an der man isst, sondern etwas ganz Anderes, etwas, wogegen Ozempic hilft. Es ist: Der Bock aufs Essen. Ozempic schaltet das Belohnungszentrum ab, man hat keinen Bock mehr aufs Essen, man isst weniger, man nimmt ab, funktioniert zu 100%. Übrigens wird das Belohnungszentrum komplett weggeschaltet, man hat auch keinen Bock mehr auf alles Andere, aufs Nägelkauen, auf Sex, auf Heroin. Wer ist man eigentlich, wenn man nichts mehr will?

Denn darum geht es heute: Das Wollen

Moment! Wollten einem die ganzen Flachpfeifen (Männer) nicht erzählen, dass man Schönheitsideale erfüllen möchte, damit man sexuell attraktiver und im zweiten Schritt auch aktiver wird? Und jetzt ‚tauschen‘ die Leute, die Ozempic nehmen, die Erfüllung von Schönheitsidealen ein gegen ihre eigene Libido? Die wollen also gar nicht vögeln? Tja, das ist nun keine neue Erkenntnis. In einer legendären Refinery29-Doku über Frauengefängnisse in den USA erzählen die Inhaftierten, dass sie sexuelle Handlungen an Gefängniswärtern vornehmen, damit diese ihnen MakeUp in die Zellen schleusen. Jetzt sind heterosexuelle Frauen im Frauenknast aber gar nicht so sehr auf dem Datingmarkt unterwegs und TROTZDEM wollen sie sich schminken? Die Erklärung ist natürlich einfach, sowohl für das Verhalten der Inhaftierten in den USA als auch für die Leute, die Ozempic nehmen. Die Erfüllung der gegenwärtigen Schönheitsideale ist eben ein Bedürfnis, so ein richtiges, in sich geschlossenes Bedürfnis, ein Selbstzweck. Übrigens auch bei denen, die reflektieren können, dass das hiesige Schönheitsideal durch historische Zufälle geprägt ist (weiß, dünn, nicht-behindert sein usw). Bloß, weil ich das verstanden habe, will ich doch nicht weniger schön sein, es wäre doch ehrlich gesagt absurd, wenn es anders wäre.

Ozempic schafft den Trieb ab, Leute, die das Medikament einnehmen, berichten von einem erstaunlich freien Kopf. Wie sähe das Leben denn eigentlich dann aus, wenigstens in meiner Vorstellung?

Ich persönlich gehe davon aus, dass es nur eine kleine Handvoll Dinge gibt, die das Leben lebenswert machen

und die haben alle was mit Genuss oder Schmachten oder Verlangen zu tun, der Rest des Lebens ist Leiden und Geschirrspülen. Jetzt ist aber das Verlangen weg, und das Leiden auch, bleibt nur das Geschirrspülen. So stelle ich mir Leute auf Ozempic vor: Den ganzen Tag am Geschirrspülen, die Hände bis auf die Knochen weggeschrubbt vom Spüli, und freundlich in ein Ringlicht werden TedTalks über die neu gefundene innere Mitte gehalten, die diesmal aber wirklich wirklich gefunden wurde. ‚Jetzt bin ich ausgeglichen‘ sagen sie dann oder ‚Ich will gar nichts mehr, das ist das wahre Glück‘, ‚Ich hab schon lange nicht mehr gefickt, meine persönliche Befreiung‘.

Klingt fast so, als ob der Existenzialist Albert Camus Recht gehabt hatte.

Der hat Sisyphos zum glücklichen Menschen erklärt. Zur Erinnerung: Sisyphos ist ein Mann aus der griechischen Mythologie, der von den Göttern dazu verdammt wurde, einen Stein einen Berg hochzurollen, der immer kurz vor der Kuppe runterrollen wird. Sisyphos muss dann immer runter und den Stein wieder hochrollen, und alles geht ewig so weiter. Camus meinte, dass das aber ein glückliches Leben sei. Sisyphos hat eine eindeutige Aufgabe, er muss sich um den Rest der Welt nicht kümmern und die Aufgabe ist auch eine, die ihn weder unter- noch überfordert. Heute würde man sagen: Der Mann ist im Flow. Besser gehts doch gar nicht.

Das denken sich auch die Ozempic-Menschen. Ich habe den Trieb abgeschabt, und jetzt habe ich mehr Zeit, darüber nachzudenken, wie ich mein Unternehmen erfolgreicher machen kann. Gott, fühlen sie sich frei und lieben ihre eigenen Gedanken.

Dabei ist die eigentliche Freiheit, einen Trieb zu haben und dann zu entscheiden, ob man dem nachgibt oder nicht. Das hat nicht nur der wundervolle Philosoph Harry Frankfurt im Grunde genommen so gesagt, sondern auch Ann-Kristin Tlusty hier aufgeschrieben. Den Trieb abzuschalten, ist ne Katastrophe für die eigene Freiheit. Gar nichts wollen, kommt mir vor wie der Horror, der ewige Wahnsinn.

Mein Schreiben ist Anti-Ozempic

Es gibt 2 große Themen, man könnte sagen, Überthemen, die immer wieder bei mir aufkommen im Schreiben. Genauer sind es zwei Spannungsfelder: Ordnung und Chaos sowie Nähe und Distanz. Meine lyrischen Ichs kommen nie mit der Ordnung klar und wollen Nähe. Der Rausch, wenn man geküsst wird und das Ungewisse in der Zukunft, die Hoffnung, alles könne besser werden. Chaos und Nähe, das ist das ultimative Anti-Ozempic. Das Leben außer Kontrolle, und in dem Chaos Nähe finden, das ist der Traum der Leute, die ich im Schreiben erfunden habe.

Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich selbst so leben will, aber ich will davon schreiben. Ich sage ja nicht wirklich, Ozempic ist scheiße, kalkulierbar erfolgreiche Gewichtsreduzierung kann sicher bei allen möglichen Krankheiten lebensrettend sein, Suchtkranken ist sicher auch geholfen mit dem Medikament. Nur: Die Trieblosigkeit ist das Ende aller Träume. Tja. Und als Schriftsteller*in habe ich dann keinen Job. Und das ist alles, was ich dazu zu sagen habe.

Memo an mich: Habe ich eigentlich meine Medikamente, die mir meinen Hormonhaushalt im Hirn durchblasen (Antidepressiva) heute schon genommen?

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