Algen und Vergebung #43

Gott, hab ichs vermisst. Die Kolumne ist wieder da und heute wird wieder jemand euer Leben besser machen. Irgendwann musste eine Kolumne über diese Person kommen, denn, abgesehen von den Menschen in meinem Umfeld, hat mich in den vergangenen 10 Jahren niemand stärker in meinem Denken beeinflusst als sie. Sie ist, wie Tocotronic sagen würden, ‚das Wissen von einem Ende der Nacht‚.

Natalie Wynn wird euer Leben besser machen

Wir müssen erst da anfangen, wo es weh tut: Das Internet! Die Geschäftsmodelle der großen Social Media- Anstalten haben es sich zum Ziel gesetzt, mein Leben zu veschlechtern. Alles muss kurz sein. Texte, Bilder, Videos. Die chinesische Spionagesoftware TikTok und das Unternehmen des Menschenfeindes Mark Zuckerberg begründen diese Entscheidungen immer mit den angeblich so kurzen Aufmerksamkeitsspannen der Menschheit, und lassen einen in Minicontent ersaufen. Wenn ich nur 2 Minuten auf diesen Seiten scrolle, habe ich Kopfschmerzen, existenzielle Fragen darüber, was ich mit meinem Leben eigentlich mache und dann bin ich meist auch noch, und das ist am Vermeidbarsten, wütend. Denn die sogenannten ‚Bubbles‘, die der Algorhythmus erstmal für einen findet, ist nie ne Bubble mit gemeinsamen Interessen, Vorlieben oder Glückseligkeit, sondern immer eine Gruppe von Menschen, die den gleichen Menschen hasst wie man selbst. Und so ist es meine Bürde, irgendwelche Reactions sehen zu müssen, weil irgendjemand, der mich nicht interessiert und den ich schon gar nicht kennen muss, etwas geschrieben hat, was mich wahnsinnig macht.

Doch da gibt es eine Plattform, die gegen den Strom schwimmt. Die in der Vergangenheit auch auf kurze Inhalte gesetzt hat, aber deren Geschäftsmodell mit meinem Konsum übereinstimmt: YouTube. Die haben nämlich herausgefunden, dass sie in ein langes Video ein völlig unseriöses Ausmaß an Werbung schalten können, diese kann man aber mit der Installation eines völlig seriösen AdBlockers deaktivieren. Ist das schon antikapitalistische Praxis? Fakt ist: Auf YouTube wird man nicht qua Format dazu gezwungen, oberflächliche Inhalte zu machen, man kann sich freiwillig dazu entscheiden.

Und die absolute Championess des langen Videos ist: Natalie Wynn, und ihr Kanal Contrapoints. ‚YouTuberin, Ex- Philosophin‘ steht in der Kanalbeschreibung, 33 Videos wurden in knapp 10 Jahren hochgeladen, diese Kolumne hier erschien also 3 Mal so häufig, und das kann ich selbst kaum glauben.

Wynn begann den Kanal als, Zitat, ‚male alcoholic‘, der gerade beschlossen hat, die akademische Karriere in Philosophie ad acta zu legen und ist nun Vollzeit- YouTuberin, zu Beginn waren die Videos etwa eine Viertelstunde lang, Wynn setzte sich dort mit rechten Bewegungen im Internet auseinander, mittlerweile gibt es ein Video pro Jahr über die richtig dicken Brocken des Lebens (Schuld, Schönheit, Sexualität usw.), welches aber 3 Stunden (!) lang ist.

Niemand macht es besser als sie.

Selbst die ersten Videos (über rechte Männer im Internet) waren all das, was ich mir vom Internet wünsche und nichts, was ich nicht mehr ertragen kann. Ich bin zu alt (31) für jeden Hot Take über alle politischen Strömungen, zu gelangweilt für gruselige Webcam- Streams, zu enttäuscht von der Überheblichkeit, die Klicks generiert. Stattdessen bestehen ihre Videos aus Hintergrundwissen, Empathie und Irrsinn, 3 Sachen, die in meiner Welt zu kurz kommen.

Wynns Videos sind komplett durchdesignt, die Räume sehen fantastisch aus, Wynn selbst spielt oft mehrere Charaktere in einem Video, verkleidet irgendwo zwischen Steampunk, Camp und Historiendrama über den englischen Adel im viktorianischen Zeitalter. Dazu mehr als eine Prise Selbstironie.

Man könnte den Ton ausmachen und die Videos als Stummfilm anschauen, und doch bekommt man viel mehr als das. Wynn ist eine Großmeisterin des Erklärens, des empathischen Erklärens.

Die Videos von Contrapoints sind eine schützende Hand für die Menschen, die für das Falsche kritisiert werden.

In ‚Beauty‚ sitzt Wynn mit angeschwollenem Gesicht, sie hat kürzlich Teile ihrer Gesichtsknochen entfernen lassen, um weiblicher gelesen zu werden, nachdem sie ihr Coming Out als Frau hatte, und erklärt: Einem Schönheitsideal hinterherzurennen, ist nicht Ausdruck davon, das Ideal nicht genug hinterfragt zu haben, sondern davon, dass schön sein zu wollen tatsächlich ein Bedürfnis ist.

Seit ihrem Video ‚Twilight‚ (Länge: 2h 52min) weiß ich, dass die Bücher im Grunde genommen Sexträume der schwer religiösen, mormonischen Autorin sind. Im Video werden Sinn und Zweck von Fantasien, Fiktion und Sexualität durchdiskutiert, bis man absolut niemandem mehr vorwerfen möchte, irgendeine Form von Fiktion zu konsumieren. Ich weiß nicht, wer das sonst hören musste, aber ich musste das hören.

Eigentlich möchte ich selbst so werden, wie das, was Wynn in ihren Videos predigt.

Besonders gut werden die Videos durch den künstlerischen Anspruch der Figuren, die Wynn spielt, den wirklich beißenden Humor, ihre Vorliebe, die Videos mit klassischer Musik zu hinterlegen, die Ehrlichkeit und den Wahnsinn, der durch die Dichte des Erzählens und Zeigens entsteht.

Der absolute Peak der Verrücktheit Wynns, vielleicht der beste Teil eines ihrer Videos überhaupt, ist ein Abschnitt in ihrem Essay ‚Envy‘, Neid (Länge: 1h 48min). Nach über einer Stunde führt sie einen neuen Charakter ein, Nyatalie, und cosplayt als Katze, die im Folgenden erklären wird, was Nietzsches Begriffe von ‚Gut und Böse‘ mit Neid zu tun haben. Dabei entschuldigt sich Wynn im Katzenkostüm zunächst dafür, dass der YouTube- Kanal zunächst als Philosophieanalyse angefangen hat und es nun aber mehr und mehr um Make- Up ginge, aber keine Angst: ‚I’m gonna learn you so hard.‘

In den nächsten Minuten kaut sich Wynn durch eine wagenradgroße Platte Sushi, verschüttet eine Flasche Champagner über den Tisch und leckt über das Gesicht einer Minibüste von Nietzsche. Ich habe es bererits gesagt, und kann es nicht überbetonen – es ist schierer Wahnsinn.

Sie möchte ja durch dieses Chaos Nietzsche erklären und der wiederum läuft mir seit anderthalb Jahrzehnten immer wieder über den Weg. Ich habe genug Philosophie studiert und mit noch mehr Philosophiestudent*innen geredet, dass ich weiß: Hegel ist zwar der Gott der Unverständlichkeit, ihn zu lesen, ist irgendwo zwischen Bewährungsstrafe und Haft, gleich in der Kategorie darunter befindet sich schon Nietzsche; insbesondere, weil er so leicht misszuverstehen ist (Liebe Grüße an die Sexisten mit Master of Arts aus dem Internet oder die NSDAP, zum Beispiel). Kurz: Es ist eine außerordentliche Leistung, Nietzsche erklären zu können.

Nach der Sushiplatte und dem umgestoßenen Champagner hat Natalie Wynn es geschafft, dass ich Nietzsche verstanden habe.

Seine Begriffe von ‚gut und böse‘, von ‚gut und schlecht‘, was das mit Neid zu tun hat, und, nebenbei, mit was für einer Brutalität er das Christentum in die Einzelteile zerlegt hat, eine Kritik, zu der keiner der selbstgerechten Kreuzberger Atheisten von heute fähig wäre.

Darum soll es aber nicht gehen, denn in diesem Abschnitt des Videos über Neid habe ich auch noch mich selbst gefunden. Bevor Wynn zu Nietzsches Theorie kam, gab es einen kleinen Exkurs durch sein Leben. Während seine Theorien hier Macht geil finden und da Übermenschen auftauchen, lebte Nietzsche selbst das Leben eines ohnmächtigen Losers (oder, wie Wynn sagt: ‚#PatheticPride‘).

Besessen mit seiner Sexualität, baute er Zeit seines Lebens zu keiner Frau oder auch sonst irgendjemandem ein inniges Verhältnis auf, war jahrelang unglücklich verliebt in Cosima Wagner (Richard der-schon-wieder Wagners Ehefrau), schlief dann einmal mit ner Prostituierten, erkrankte daraufhin an Siphylis und starb elendig daran. Zu Lebzeiten gab er sich als Arzt aus (‚Dr. Nietzsche‘), um sich selbst Betäubungsmittel verschreiben zu können (O- Ton Wynn: ‚relatable‘).

Laut Wynn ist das das eigentliche Wunder an Nietzsches Werk: Wie jemand, der so ein Leben lebte, so etwas schreiben konnte.

Und da sind wir auch schon bei mir.

Ich kenne kaum jemanden, bei dem das eigene Schreiben und das eigene Leben so weit auseinander liegen wie bei mir. Ich schreibe über Social Media wie andere über die Apokalypse, und doch habe ich mich mindestens 14 mal während der Entstehung dieses Textes im Internet verloren. Ich schreibe über die oberflächliche Peinlichkeit so mancher Slamtexte und gehe selbst mit solchen auf die Bühne. Schreibe über Vergebung und hasse trotzdem. Ich schreibe diesen Abschnitt, obwohl ich immer wieder sage, dass es voll okay ist, Wasser zu predigen und Wein zu trinken.
Wie viele Texte darüber, dass ich es nicht mehr ertragen kann, ‚ich kann heute nicht, mir geht es nicht so gut‘ zu schreiben oder zu lesen, und dann war ich, im Grunde von Juni bis November diesen Jahres, komplett untergetaucht. Habe niemandem geschrieben, niemanden getroffen, mich bei meinen Freund*innen nicht gemeldet, bis fast die Bullen gerufen wurden, und das, obwohl Freundschaft mir das Wichtigste im Leben ist. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Tut mir Leid? Es tut mir Leid, aber ich habe das Gefühl, das reicht nicht.

Ich bin davon überzeugt, dass es besser ist, was zu machen, als nichts zu machen, um sich nicht zu verlieren. Und ich finde mich nirgendwo so sehr wie im Schreiben. Also startet diese Kolumne wieder durch, denn mein Schreiben soll nicht mehr so weit von meinem Leben entfernt sein. Danke an Natalie Wynn für Inspiration seit knapp 10 Jahren, und danke euch, liebe Leser*innen. Bis zur nächsten Ausgabe, sie kommt früher als ihr denkt!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert