Algen und Vergebung #2

Was soll man machen, wenn Leute, die die eigene Muttersprache sprechen, plötzlich in Massengräbern liegen? Das ist eine Frage, die ich mir nicht stellen wollte. Es ist aber 2022 und es ist nun soweit.

Ich bin Deutschrusse und eine Menge Leute, die mir sehr ähnlich sind, die oftmals mit den gleichen Geschichten aus der Sowjetunion aufgewachsen sind, die mit den gleichen Märchen, den gleichen eingelegten Gurken, den gleichen Witzen über Breschnews Augenbrauen aufgewachsen sind, die werden jetzt bebombt.

Ich muss mir eingestehen: ich kann dagegen nicht so viel machen. Eigentlich kann ich da gar nichts gegen machen. Gegen die Bomben hilft also nichts, kann ich denn woanders helfen?

Da fiel mir etwas ein: meine Eltern sind ja selbst nach Deutschland gekommen, 1992, und, seien wir ehrlich, es hätte besser laufen können.

Ihr müsst euch vorstellen: Leute aus Osteuropa, die nach Deutschland kommen, um hier zu leben, kommen mit nichts hierher. Nicht unbedingt (jedoch meistens) finanziell, aber ganz unbedingt sozial und kulturell. Ich bin die erste post-migrantische Generation und wenn man mich und meine Eltern in ein soziales Milieu einordnen würde, dann bin ich zwar nicht unbedingt reicher als sie, aber kulturell bin ich nicht bloß aufgestiegen, ich bin durch die Decke gegangen. Ich kann in Deutschland glücklich sein, unabhängig davon, ob ich es jetzt bin oder nicht. Meiner Elterngeneration ist das nicht vergönnt gewesen. Alle Freund*innen, die meine Eltern in Deutschland kennengelernt haben, haben sie in den ersten Monaten hier im Sprachkurs kennengelernt1, danach kam niemand mehr dazu. Was hat es ihnen also schwer gemacht?

Zunächst hat man als osteuropäische*r Migrant*in natürlich gar nichts. Irgendwann kommt eine Wohnung, ein Job, irgendwann Geld, aber in den ersten Jahren wurde einem unmissverständlich klar gemacht, dass man nicht dazu gehört. ‚Wie schreibt man ihren Namen?‘, ‚ich hoffe, ich habe das jetzt richtig ausgesprochen‘, ‚können sie das nochmal wiederholen, ich habe sie nicht verstanden‘, Leute, die extra langsam mit einem reden (‚damit sie mich verstehen‘), Leute, die nicht ernst nehmen, was man sagt, Leute, die denken, man sei dumm, weil man Mühe mit dem Vokabular und der Grammatik hat2.

Das geht ein paar Jahre so und bis dahin sagt man dann irgendwann lieber gar nichts mehr. Und dann, wie gesagt, kommen Job, Wohnung, Geld, man steigt sozial auf und dann geht man zum ersten Mal ins Restaurant, aber man hat immer noch den dummen osteuropäischen Akzent und man hat auch keine Ahnung, wie man sich eigentlich verhält in nem deutschen Restaurant, wieder Blicke, wieder Herablassung, wieder Deutsche, die einem erklären, wie man sich benimmt und nichts wird so deutlich wie: alles was ich gelernt habe in meiner Kindheit, in meiner Jugend, ist hier wertlos.

Es gibt viele Techniken, wie man damit umgegangen ist in der migrantischen Generation der 80er/ 90er: die einen sind deutscher als die Deutschen geworden (Helene Fischer), die nächsten werden Alkoholiker*innen, andere versuchen, das Wörterbuch auswendig zu lernen, um es den Deutschen so richtig zu zeigen (meine Mutter).

Nichts davon ist wirklich gesund gewesen. Alle Biographien sind gebrochen. Wegen der Flucht und ihrer Gründe, aber vor allem: wegen des Lebens danach.

Es hätte alles nicht so schlimm kommen müssen. Und jetzt: Schon wieder Geflüchtete aus Osteuropa, aus der Ukraine, und nicht zu knapp.

Ich freue mich ja auch über die sicheren Fluchtwege, die Möglichkeiten, eine Arbeit aufzunehmen, die kostenlosen Fahrten im Fernverkehr, psychologische Angebote usw. Aber das isses nicht. Das reicht einfach nicht. Wir müssen irgendwie versuchen, dass sich diese Generation osteuropäischer Migrant*innen nicht so fucking anders fühlen muss. Und es gibt so viele Gründe, warum das schwer ist: sie wurden bebombt, die meisten von uns nicht. Sie können ihre Namen auf Anhieb richtig schreiben, die meisten von uns nicht. Das wird alles wieder passieren. Aber vielleicht das nicht: Meine Eltern wurden nie gefragt nach irgendwas aus ihrem vorherigen Leben. Nach gar nichts. Das Interesse war Null. Jetzt sind wir in der Situation, dass postsowjetische Migrant*innen die größte migrantische Gruppe in Deutschland sind, und es gibt jetzt eine Menge Infrastruktur schon in diesem Land, sie ist nur unsichtbar für die Mehrheit.


INTERESSIERT EUCH FÜR OSTEUROPÄISCHE KULTUR! Und damit ihr nicht alles Geflüchtete selbst fragen müsst, sondern vielleicht ein paar Ideen zur Eigeninitiative bekommt, hier mein Appell: Geht in einen osteuropäischen Supermarkt. In eurer Stadt gibt es auch welche! Ich weiß, wie peinlich das klingt angesichts des Leids, wie klein und verzweifelt das wirkt. Ist es vielleicht auch. Ich meine es trotzdem vollkommen ernst!

Und ich werde zum Abschluss dieser Kolumne versuchen, euch osteuropäische Supermärkte schmackhaft zu machen.

Diese Art Supermarkt funktioniert eigentlich immer gleich, ich möchte trotzdem von einem ganz bestimmten erzählen, dem KARA Markt in Paderborn.

‚K Turku‘ (‚zum Türken‘) gehe man, sagte man bei uns, weil der Besitzer wohl ein Türke sei, das Sortiment ist aber überwiegend nach osteuropäischen Geschmack. So wurde es langsam der Treffpunkt für die Postsowjets und seit den 90ern ist dieser Supermarkt gewachsen und gewachsen, bis er der zweitgrößte der ganzen Stadt geworden ist.

Auf dem Parkplatz passiert alles, was osteuropäisch ist. Familien von Baptist*innen reisen in Kleinbussen an, irgendjemand verschluckt sich an nem Schaschlikspieß am Schaschlikstand, die Schlange vor den frittierten Piroschki3 ist lang.

Man geht rein. Es riecht, wie in jedem verdammten osteuropäischen Supermarkt, nach Dill und irgendwas Anderem, ich weiß es nicht genau, aber es ist immer der gleiche Geruch und es riecht nur in diesen Supermärkten so.

Es sieht ein bisschen aus wie ein Aldi aus den 90ern, gekachelte Wände (leicht gelb angelaufen), hier gehts nicht ums Aussehen, sondern darum, dass die Besucher*innen sich an ihre Herkunft erinnern sollen.

Ihr habt noch nie in eurem Leben so viele eingelegte Sachen gesehen. Vergesst, was die Deutschen einlegen. Es gibt natürlich eingelegte Gurken, eingelegte Tomaten (wenn die gut sind, ist es eingelegte Liebe), eingelegte Wassermelonen (kein Scheiß) usw.

Wenn ihr Ayran liebt, herzlich Willkommen in der Molkereiabteilung. Es gibt so viele trinkbare Milchprodukte aus Osteuropa, Kefir ist nur der Anfang, probiert euch durch!

Obst und Gemüse. Oh boy. Wenn ihr im Sommer kommt, riecht es nicht nach Dill. Dann riecht es nach Honigmelonen. Warum? Es gibt usbekische Honigmelonen. Die sind so groß wie eine Kiste Wasser und riechen bis zum Parkplatz vor dem Supermarkt. Usbekische Wassermelonen brauchen einen Kindersitz im Auto.

Eis. Ihr MÜSST Eis aus Osteuropa probieren. Nicht das dumme Plombir aus dem Rewe, das hier ist nochmal ein anderes Level. Ich habe so viel dazu zu sagen, das wäre eine eigene Kolumne.

Ihr geht hin, ihr probiert euch durch und ihr werdet feststellen: das war lecker, das möchte ich nochmal essen. Und dann geht ihr nochmal hin. Und irgendwann redet ihr mit jemandem aus Osteuropa und dann könnt ihr euch nicht vorstellen, wie glücklich ihr jemanden machen könnt, weil ihr über Essen redet. Denn das Essen ist nicht nur Essen, es ist ein Einreißen der Ignoranz, die Wertschätzung von Kultur. Ich meins ernst.

Am 08. Mai ist Tag der Kapitulation. Ich wünsche mir so, so gerne, dass diesmal noch eine Kapitulation dazu kommt und auch diesmal wieder vom Aggressor. Aber das ist wohl zu viel gewünscht.

Von euch will ich nicht, dass ihr einen Angriffskrieg einer Megaatommacht auf ihr Nachbarland beendet. Ich will, dass ihr keine vermeidbaren Berührungsängste habt gegenüber den Leuten, die als Konsequenz davon jetzt eure Nachbar*innen werden.

Ciao und bella ciao (08. Mai, ich werds feiern).

1Und DESHALB müssen Sprachkurse verpflichtend und kostenlos sein, nicht wegen ‚Sprachkenntnissen‘, die kommen so oder so irgendwann

2Als ob die Deutschen die eigene Grammatik beherrschen. Soll ich mal ne dass/das- Übung aus der 4. Klasse mitbringen?

3Oh, sweet Jesus. Kostet 2 Euro und ist geil und fettig, aber auf eine Art, dass man danach 1 Woche grünen Salat ohne Dressing essen muss

2 Gedanken zu „Algen und Vergebung #2

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