Normalerweise schreibe ich eine Kolumne immer so, dass ich in mich gehe, was mich die vergangene Woche beschäftigt hat. Und wenn wir jetzt einmal ganz ehrlich zueinander sind, war diese Woche ein geistiger Urlaub für mich. Wie also ein Thema finden, wenn mir Olaf Scholz, Joe Biden und wie die ganzen anderen Männer alle heißen komplett am Arsch vorbeigegangen sind?
Die Wahrheit ist: Seit vergangenem Freitag habe ich ganz anderen Männern zugesehen. Genauer: Ich habe hageren Männern in Elastanhöschen beim Leiden zugesehen. Denn vergangenen Freitag begann die Tour de France. Und dieses Mal habe ich mich gefragt, warum ich eigentlich jeden Juli fast täglich stundenlang vorm Livestream hocke und Leuten dabei zusehe, wie sie auf dem Rad durch Frankreich fahren.
Und die Antwort liegt in der Kindheit:
Der einsame 9- jährige Boris saß in seinen Sommerferien alleine zu Hause oder bei seinen Großeltern vor dem Fernseher. Warum? Seine Eltern hatten zunächst kein Geld und später keine kulturelle Gewohnheit, ihn in ein Ferienlager abzuschieben, wie das die deutschen Familien gemacht haben.
Da lief etwas im Fernsehen, davon habe ich schonmal gehört, darüber haben sie im Sportteil der Nachrichten gesprochen und es war nicht Michael Fucking Schumacher. Ulrike von der Groeben (RTL aktuell, haben alle Deutschruss*innen geguckt, weil die Sprache einfacher gewesen sein soll) ‚machte den Sport‘, sie saß da mit ihrem leicht verschmitzten Blick, ihre ganze Körperhaltung war ein Augenzwinkern, jetzt käme etwas nicht ganz so Ernstes. Nein, jetzt wird keiner mehr sterben, nein, es geht jetzt nicht mehr um die schlechten Umfragewerte der SPD. Ja, wir machen jetzt etwas Unnützes, wir reden über Sport. Und damals, als es noch Jan Ullrich gab, da redete man im Juli auch bei RTL über Radsport.
Und im Juli waren Sommerferien und ich saß da vor dem Fernseher und da übertrugen sie Bilder aus Frankreich, live und den ganzen Tag. Und ich, der nur Ostwestfalen kannte, ich konnte nicht fassen, wie schön dieses verdammte Land war. Das kann doch gar nicht sein, dass es so etwas wirklich gibt. Sie fuhren durch die Provence und ich dachte: wieso ist dieses Feld lila? Lavendel war doch nur eine Sorte für ne Seife. Sie fuhren durch die Alpen und die Pyrenäen und ich habe solche Ausblicke nur im Kino gesehen, aber im Kino konnte ich mir nie sicher sein, dass das wirklich so aussieht.
Und so schaute ich und verstand: das ist also die Tour de France, es ist wie Fußball, nur schöner. Und niemanden in meiner Familie interessiert das. Niemanden in der Schule interessiert das. Es ist mein eigenes kleines Geheimnis. Ich mag das, weil ich das mag. Weil ich auch was toll finden kann. Weil ich auch einen eigenen Kopf habe. Mir muss niemand was zeigen, ich kann selbst was Großartiges finden. Für einen 9- jährigen war das die totale Emanzipation.
Wer einen Monat im Jahr ‚in Frankreich‘ verbringt, der wird sich irgendwann verändern.
Und dieses Jahr ist mir aufgefallen, was für einen großen Einfluss auf mein Leben das ganze Radsportschauen hatte.
Ich bin frankophil geworden, als noch niemand in meiner Familie jemals in Frankreich gewesen ist. Tanken in Luxemburg war the closest thing. Nach der Schule wäre ich fast nach Frankreich gegangen und wer weiß, vielleicht wäre ich auch da geblieben.
Ich hätte vielleicht nicht angefangen, als Teenager französische Musik zu hören. Stromae war neu und aufregend, aber ich bin dann schnell auf ältere Musik wie Manu Chao gestoßen und der Mann hat die ganze Zeit von Geflüchteten gesungen und das war dann meine erste ‚eigene‘ politische Position, denn meine Eltern durften ja nach Deutschland einreisen, und auch wenn Deutschland wahrlich nicht gut zu ihnen gewesen ist, noch schlimmer wäre natürlich gewesen, wenn sie gar nicht reingelassen worden wären. Das hab ich auch mit 15 kapiert.
Am Wichtigsten aber: Ich habe gelernt, wie schön Nutzloses sein kann. Ich gehe sogar einen Schritt weiter:
Ein Leben, ohne sich für Nutzloses zu begeistern, ist pures Leid.
Und deshalb kann ich nur allen empfehlen: Macht irgendwas Nutzloses, begeistert euch für irgendwas Nutzloses. Es gibt nichts ‚Unwichtiges‘ und nichts ‚Falsches‘. Alles, was ihr macht, wird einen Einfluss darauf haben, wer ihr seid. Macht dann doch lieber auch was Schönes.
Früher dachte ich, wer sich nicht ständig über Politik oder Geschichte inforrmiert, ist ein priviligierter Idiot. Heute denke ich: Ich war einfach ein unausstehliches Arschloch, der gedacht hat, dass er selbst wichtig ist, wenn er sich für wichtige Sachen interessiert. Ich weiß heute auch, dass die Leute, die über irgendwas völlig Abstruses ganz genau Bescheid wissen, anstatt sich über Olaf Scholz‘ Sommerinterview aufzuregen, die interessanteren Menschen auf der Welt sind. Der 9- jährige Boris hat das schon irgendwie gefühlt. Der 28- jährige Boris weiß es jetzt.
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