Algen und Vergebung #22

Heute geht es um einen Film. Dieser ist, das kann ich schon mal vorwegnehmen, über meine Teenagerjahre mein absoluter Lieblingsfilm gewesen. Ich habe mit 15 gemerkt, dass ich frankophil bin und für mich war dieser Film ein Ereignis: Die fabelhafte Welt der Amélie, erschienen 2001.

Es geht um Amélie Poulain (gespielt von der sagenhaften Audrey Tautou), die in einer künstlerisch- farbenfrohen Version von Paris lebt und, na ja, was eigentlich macht? Mir fiel es immer schwer, die Handlung des Films zusammenzufassen.

In den vergangenen Jahren fiel der Film bei mir der Vergessenheit anheim, doch vergangene Woche bin ich auf einen Verriss gestoßen von Wolfgang M. Schmitt: ‚Die GRAUENHAFTE Welt der Amélie‚. Ich musste klicken, der Film hätte meiner Meinung nach ja gar nicht polarisieren können, aus meiner Sicht hätte man ihn nur mögen oder langweilig finden können. Und jetzt aber ein Verriss?

Teilweise habe ich die Kritik gut nachvollziehen können (der Film war der Startschuss für die ganze gekrächzte nette Leute an netten Orten- Scheiße in Filmen, er sieht aus wie eine Vorwegnahme sämtlicher Instagramfilter, alle arbeiten in netten kleinen selbstständigen Cafés, als ob in Paris der Spätkapitalismus nie passiert sei), bei anderen Teilen der Kritik konnte ich meinen Ohren kaum glauben. Also beschloss ich, den Film noch mal zu schauen. Diese Kolumne ist das Ergebnis davon.

Ich habe ja schon gesagt, es fiel mir immer schwer, die Handlung zusammenzufassen, nach der Filmkritik von Schmitt habe ich beim Film nur darauf geachtet, was die Protagonistin Amélie eigentlich die ganze Zeit macht und bin zum gleichen Ergebnis gekommen wie der YouTuber:

Amélie Poulain ist ein manipulatives Arschloch

Richtig gelesen. Sie hat genau eine Handlungsmotivation: Sie will Macht über ihre Mitmenschen ausüben. Im Laufe des Films beschließt sie die Schicksale allerhand Menschen, die einen verkuppelt sie, ohne, dass sie drum gebeten wurde, der Nachbarin schreibt sie Briefe und tut so, als ob diese von ihrer im Krieg verstorbenen Liebe sind, sie macht allerlei irritierende Sachen mit ihrem Vater und dem ‚bösen‘ Gemüsehändler, diese sind beide kurz davor, vor Paranoia den Verstand zu verlieren.

Der arme Nino Quincampoix, der am Ende des Films ein Paar wird mit Amélie, muss verschiedene Rätsel, Schnitzeljagden und Sonstiges erledigen, um Amélie überhaupt zu Gesicht bekommen zu dürfen. Sie hingegen schaut ihm beim Lösen der Rätsel immer wieder aus sicherer Distanz zu, wie er sich den Arsch aufreißt. Und selbst dann muss er mehrfach vor ihrer Tür stehen, bevor sie ihm aufmacht.

Und trotzdem sind wir (also ich ganz sicher) aus dem Kino rausgegangen mit Tränen der Rührung: Wow, was ist Amélie für ein guter, schöner Mensch. Wie zur Hölle konnte das passieren? Der Film hat doch nicht etwa…


Der Film manipuliert uns genau so, wie Amélie Poulain ihre Mitmenschen

Wie? Also erstmal: Es läuft, solange das filmische Narrativ es will, ja immer ‚gut‘. Die Leute freuen sich unverständlicherweise über die Eingriffe in ihr Schicksal durch die Protagonistin, der sie, genau wie wir als Zusachuer*innen, aus irgendeinem Grund vertrauen.

Die Ästhetik des Films ist eine richtige Farbgewalt, jeder Shot ein expressionistisches Gemälde, dann noch überall Sounds, die Kruste der Crème Brulée knackt einem durch die Ohren direkt ins Hirn, es ist eine einzige ASMR- Show, die Musik von Yann Tiersen tut das Ihrige dazu. Man will den Kopf ausschalten und genießen. Und weil es technisch wirklich gut gemacht ist, und der Kopf ja aus ist, glauben wir dem Narrativ des Films, Amélie Poulain wolle ihren Mitmenschen ja nur helfen und lässt Nino zappeln, weil sie so unsicher ist.

Kennt ihr manipulative Menschen, die aus Selbstsicherheit so geworden sind? Ja, eben. Niemandem würden wir das durchgehen lassen. Außer: Amélie Poulain.

Und weil der Film so erfolgreich mit unserenen Sinnen spielt, lenkt er uns ab von dem, was wir eigentlich sehen müssten: Dass Amélie Poulain eine Antiheldin ist. Deshalb fiel es mir auch immer so schwer, den Plot zusammenzufassen, wir werden ständig abgelenkt und durchmanipuliert, bis wir Amélie für einen guten Menschen halten.

Inhalt und Form

Es gibt ein ultimatives Ziel in der Geschichte aller Kunstformen: Inhalt und Form müssen eine Einheit geben. Wie wir eben festgestellt haben, ist das diesem Film herausragend gelungen.

Damit wären wir nun bei folgendem Szenario: Wenn die doppelte Manipulation von ‚Die fabelhafte Welt der Amélie‘ gewollt war, dann ist es vielleicht der beste subversive Film aller Zeiten. Wenn nicht, dann müssen wir uns echt fragen, was Jean- Pierre Jeunet, Regisseur und Drehbuchautor von ‚Amélie‘, sich dabei gedacht hat, uns eine komplett von Macht getriebene Protagonistin als ‚eigentlich‘ liebevoll zu verkaufen.

Also müssen wir Jeunet wohl fragen?

Über das Verhältnis von Künstler*in und Werk

In den vergangenen Jahren, insbesondere seit den Enthüllungen rund um ‚MeToo‘ 2017, immer nur eine Frage: ‚Darf man einen Film gucken mit Personen XY?‘ Habe mich das damals auch gefragt, und Antworten gesucht bei Frauen, die im Film arbeiten oder über Film schreiben. Die häufigste Antwort war: ‚Das musst du selber wissen‘. Was für eine unbefriegende Antwort!

Im Laufe der Zeit ist mir aufgefallen: Die schlechte Antwort liegt daran, dass die Frage nicht richtig gestellt ist.

Viel aufschlussreicher ist die Frage, was denn jetzt das Verhältnis von Künstler*in und Werk eigentlich ist. Wie wichtig ist es überhaupt, was Jean- Pierre Jeunet ‚uns sagen‘ wollte?

Während des Kulturwissenschaftsstudiums (kein Abschluss, aber dafür länger studiert als die meisten Anderen) begegnete ich vielen Kunsttheorien, die Überzeugendsten waren alle eine Version von: Kunst ist erst dann Kunst, wenn das Werk viel größer ist als das, was der*die Künstler*in an Intention dort hineingesteckt hat. Die Künstler*innen haben keine Kontrolle mehr über die Interpretation, sie ‚geben das Werk ab‘ an uns und wir machen dann sehr unterschiedliche Sachen daraus, weil auch sehr unterschiedliche Dinge da ‚drin‘ sind, sie ‚weist aus sich heraus‘, wie Georg Simmel so treffend geschrieben hat.

Im Zeitalter der Sehnsucht nach Authentizität behaupten ja sogar Künstler*innen selbst immer wieder, sehr lebensnah und gar nicht anders auf der Bühne zu sein als im sonstigen Leben. Das ist aber eine gewaltige Lüge. Als Betrachter*innen von Kunst kann man eben nur entweder das Eine oder das Andere sehen. Entweder ich denke darüber nach, was für ein Arschloch eine Person ist oder ich denke über die Narrative der Kunst nach, beides gleichzeitig geht einfach nicht, weil das komplett unterschiedliche Ebenen sind. Natürlich sind beide Optionen vollkommen nachvollziehbar, auch ich kann gewisse Leute nicht mehr sehen in Filmen bzw Kunst generell. Aber grundsätzlich zu behaupten, man ‚dürfe‘ das nicht trennen oder man ‚dürfe‘ doch, ist am Thema einfach vorbei.

Was machen wir dann jetzt mit Jean- Pierre Jeunet und der fabelhaften Welt der Amélie? Ihm werfen wir ja keine Verbrechen vor, sondern ’nur‘, Machtgetriebenheit nett zu finden.

Die Wahrheit ist: Jeunet geht mir am Arsch vorbei. Der Film ist wichtig. Ich habe ‚Die fabelhafte Welt der Amélie‘ bestimmt 10 Mal gesehen und selbst 15 Jahre nach dem ersten Sehen habe ich nochmal eine neue Ebene im Film entdeckt und es war auch noch eine Erkenntnis über mich selbst: Ich lasse mich wahnsinnig gerne manipulieren. Das im Kino zu merken und nicht erst in einer persönlichen Beziehung, ist praktisch und fantastisch, das ist nichts weniger als die Power von Kunst. Dafür brauche ich keine Intention des Künstlers. Das macht schon die Kunst ganz alleine.

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