Algen und Vergebung #20

Leute feiern ihre persönliche Befreiung, wenn sie in Teilzeit wechseln können, dabei gibt es schon längst keine 40- Stunden- Woche mehr: Wer aufwacht, und denkt, er müsse jetzt den Mail- Account öffnen, der arbeitet weder Teil- noch Vollzeit, sondern die ganze Zeit. Und es wird auch noch ernsthaft erwartet, dass man das machen müsse. Man soll immer erreichbar sein, denn schon Hornbach wusste: ‚Es gibt immer was zu tun. Da Pa Daa Ja Yippie Yippie Yeah‘.


Wer ist Schuld?

Na ja, eigentlich sind alle ein bisschen Schuld. Der Kapitalismus sowieso. Aber ganz besonders Schuld ist natürlich das SiLiCoN vAlLeY. Irgendwie sind sich alle einig: Naja, es gibt ein paar blöde Leute, und ja, es sind schon Großkapitalist*innen, aber sie sind ja innovativ und manche sind ja auch ganz woke, also so schlimm wie die anderen sind sie ja nicht. Wollt ihr mich verarschen? Was hat denn das Silicon Valley vorgebracht? Da gibt es vor allen Dingen 2 Sachen, die angeblich unser Leben verändert haben: Social Media und das Smartphone. Alle die das geglaubt haben, ihr müsst jetzt ganz stark sein: Nichts daran ist transformativ.

Tatsächlich sind alle Erfindungen aus dem Silicon Valley darauf ausgerichtet, möglichst viel Ökonomisierbarkeit des Menschen in einen Tag reinzupressen. Ich habe noch nicht mal mehr einen Überblick darüber, wer gerade alles versucht, an mir Geld zu verdienen, wenn ich irgendwas mache über den Tag. Und natürlich: Social Media und das Smartphone haben alle Ausreden verschwinden lassen, warum man gerade nicht erreichbar ist. Der Arbeitgeber soll einen rund um die Uhr terrorisieren können, und wir müssen uns immer schlecht dafür fühlen, wenn wir irgendwas ‚zu spät‘ lesen.

Die Erfindungen des SiLiCoN vAlLeY haben also rein gar nichts verändert, sie haben nur die turbokapitalistischen Trends der 80er und 90er vollkommen zur Geltung gebracht.

Ich mein, Meta, Google usw sind alle im Grunde genommen Unternehmen, die Werbung verkaufen. Mit Werbung Geld verdienen? Ja, was für eine bahnbrechende Idee! Da wäre RTL in den 80ern nie darauf gekommen.

Nein, nichts ist bahnbrechend an dem, was das Leben im 21. Jahrhundert so ‚verändert‘ hat. Transformativ wäre gewesen, wenn die Tech- Giganten Werbung beendet hätten. Oder gesagt hätten: Wir wollen dafür sorgen, dass Leute weniger arbeiten müssen. Da kommen aber die Leute in den entsprechenden Unternehmen nicht drauf. Und im SiLiCoN vAlLeY arbeiten ja wirklich wahnsinnig gebildete Menschen, die Gebildesten überhaupt eigentlich. Sie denken ja von sich selbst, visionär zu sein, kommen aber immer nur mit erbärmlichen Winzigkeiten um die Ecke, die auch noch die Schräubchen des Systems langsam und unnachgiebig anziehen.


Eine Generation hat diese Logik komplett angenommen.

Es ist meine Generation: Die Millenials. Sie arbeiten in den Tech- Unternehmen an der kalifornischen Westküste und wenn nicht, dann scrollen sie sich auf Instagram durch.

Ja, ich schau auch in meine eigene Richtung. Wie viele Ankündigungen für kommende Auftritte von Kleinkünstler*innen auf Instagram soll ich noch ertragen? Alle herausgekotzt, alle in diesem jämmerlichen Story- Rechteck, alle deprimierend, alle gleich. Man muss ja, denn wie soll man sonst als Kleinunternehmer*in überleben? Aber leider gibt es auch ein klitzekleines Großunternehmen, was davon noch ein bisschen mehr profitiert, dass wir so den Tag verbringen. Und so ist alles falsch und alles dreckig.

Herrgott, kann nicht einmal wenigstens jemand sagen, wie scheiße das alles ist? Stattdessen immer nur gute Laune verbreiten, sonst kommt ja niemand zu der Lesung. Ja, Zuckerberg wird schon kritisiert, aber trotzdem sind wir die, die ihm die Geldrollen tief in den Rachen stecken. Ich bin mir bei den Millenials noch nicht mal sicher, dass sie ihm die rührselige Lüge von ‚wir verbinden ja Leute‘ nicht glauben. Als ob der Mensch 2004 angefangen hat, zu kommunizieren und Netzwerke zu bauen.

Im Vergleich dazu, was Millenials tun, ist es fast schon antikapitalistische Praxis, einen ganzen Nachmittag lang VOX zu gucken und Chips zu fressen, weil dabei so viel weniger Daten verkauft werden, so viel weniger Unternehmen versuchen, das letzte Geld aus der Tatsache unserer Existenz herauszuquetschen.

Und jetzt ratet mal, wozu das alles führt.

Wenn man ständig die Zitrone sein muss, die herausgepresst wird, immer nur das Portemonnaie, mit dem irgendwas bezahlt wird, dann wird man irgendwann schlichtweg wahnsinnig. Und so ist es überhaupt nicht verwunderlich, dass ausgerechnet die Millenials die Ersten sind, die Psychologie ernst genommen haben. Weil sies ernst nehmen mussten. Schuld und Scham, dass man nicht mehr mitkommt, Depressionen, Burn- Out, wasweißich.

Achtsamkeit (zur Verbesserung von sozialen Beziehungen), Verzicht auf Zucker (gegen Morbus Crohn, Schlafstörungen, Migräne etc.), Therapie (gegen Depressionen, Burn- Out etc.). Es gibt unzählige Möglichkeiten, was für sich selbst zu tun.

Was verbinden diese ganzen neuen Entwicklungen, die von den Millenials sehr gerne angenommen werden? Sie behandeln Stresskrankheiten. Und sie helfen alle, aber vielen dann doch nicht und sie warten auf den nächsten Trend, und dann hört die verdammte Migräne vielleicht auf oder die Nacht wird endlich durchgeschlafen.

Aber, Leute, also, wo kommt denn der Stress her? Ja, eben.

Aus dem gleichen Grund wird auf einmal auch so viel über Prokrastination geredet. Ihr glaubt doch wohl nicht, die Menschen haben in den 90ern angefangen, zu prokrastinieren? Natürlich nicht. Das haben Leute schon immer gemacht, es hat nur nie jemanden interessiert, weil es keiner überprüfen konnte. Heute ist der Verdacht sofort da, wenn die Mail nicht am gleichen Tag beantwortet wurde. Man sucht händeringend nach Entschuldigungen, man twittert selbstironische Prokrastinations- Memes, es ist letztlich unbezahlte Arbeit, denn man denkt nur über die Arbeit nach.

Wie sehr man sich vom Nicht- Arbeiten verabschiedet hat bei den Millenials, kann man daran sehen, wie sie über Nicht- Arbeit reden. Die Freizeitbeschäftigungen werden zum Skill- Training, man ‚arbeitet‘ an seinem Körper im Fitnessstudio und dann: Das ewige Gönnen. Man gönnt sich eine Auszeit, man gönnt sich 9 Stunden Schlaf, man gönnt sich, mit jemandem Kaffee zu trinken. Als ob man sich das gönnen lassen muss. Als ob das nicht überlebensnotwendig ist. Alles, was Nicht- Arbeit ist, erfordert eine Entschuldigung in meiner Generation, eine Erklärung, wie kann man nur. Und dann wundert man sich, dass die Migräne immer wieder kommt. Und dann werden Kochbücher gekauft, denn man isst ja auch jeden Tag, also muss an dem Essen was falsch sein. Ich bin mir sicher, in der Menschheitsgeschichte hat sich noch nie jemand so gesund ernährt wie die Millenials und wir werden bestimmt Typ II- Diabetes ausrotten, nur unsere Stresskrankheiten, die werden wir nicht überwinden.

Den Millenials wird ja immer vorgeworfen, eine absolute Schlappschwanzgeneration zu sein.

Aus den falschen Gründen, aber an sich stimmt das eben leider doch. Die 68er wollten wenigstens Drogen nehmen und ihre Eltern hassen, die Punker haben wenigstens keinen Respekt vor der sozialen Ordnung gehabt und die einzigen Industriellen, die von ihnen profitiert haben, waren die Hersteller*innen von Brauereien.

Und wir? Na ja. Eigentlich wäre ja alles da. Es gibt ein gewisses Verständnis für menschliche Bedürfnisse, das war vorher nicht da. Es gibt absurde Mengen Geld in Westeuropa, das war vorher so auch noch nicht da. 150 Jahre linke Theorie, über 100 Jahre Psychologie, es ist alles da. Man könnte doch also was tun.

Ich selbst antworte nicht jeden Morgen auf Mails. Aber: Mir wird rückgemeldet, dass das scheiße ist und, wenn ich ehrlich bin, ich fühl mich auch nicht so toll damit. Noch nicht mal ich selbst kann mich geistig wirklich abgrenzen von den Mühlen der Beschleunigung im Spätkapitalismus, wie soll ich das von jemand Anderem wollen?

Aber versuchen müssen wirs. Kann doch nicht wahr sein, dass wir nicht mal ein winziges Bisschen respektlos werden können gegenüber einem System, welches den uncharismatischen Sektenführer Elon Musk zum erfolgreichsten Mann der Welt macht. Und dann, wenn wir das geschafft haben, dann vielleicht – ja, dann können wir auch mal über Revolution reden. Und dafür bin ich dann auch gerne erreichbar, denn dann gehts wirklich mal um was.

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