Algen und Vergebung #29

So, OK, lasst mich wenigstens einmal darüber schreiben. Ich mach es auch nur deshalb, weil ich ein wenig jüdische Geschichte studiert habe, ein wenig linke Geschichte und genug mit der Region zu tun habe (kenne ein paar Leute in Tel Aviv), aber nicht so persönlich involviert bin, dass ich nur weinen kann.

Einmal, jetzt, schreibe ich über Israel- Palästina

Es ist heute einen Monat und zwei Tage her, dass die Hamas Massaker in Südisrael begangen hat und heute jährt sich die Reichspogromnacht zum 85. Mal und ich bekomme das Thema eh nicht aus dem Kopf raus.

Zunächst: Ich weiß auch nicht, was man machen soll. Alles fühlt sich falsch an. Ich habe keine wirklich gute Idee davon, wie der Konflikt zu Ende gehen kann, ich weiß noch nicht mal, wie man jetzt deeskalieren kann.

Kurz zur Einordnung: Seit der Unabhängigkeit Israels ist politisch eigentlich so ziemlich alles passiert, was geht. Israel hatte linke und rechte Regierungen, die palästinensischen Führungen waren mal offener, mal verschlossener gegenüber einer 2- Staaten- Lösung. Es gab Zeiten, in denen das Westjordanland und der Gazastreifen besetzt waren, Zeiten, in denen das nicht so war. Es gab Zeiten, da wurden viele illegale Siedlungen gebaut, es gab Zeiten, da wurden die Siedlungen aufgelöst, dann wurden sie doch wieder hingebaut. Nichts, gar nichts, hat den Konflikt beendet. Er war mal heißer und mal kälter, die Regel war: Wenn es Friedensverhandlungen gab, gab es danach mehr Gewalt, wenn es mehr Gewalt gab, gab es mehr Gewalt. Die friedlicheren Phasen waren immer auch Phasen der Erschöpfung, nicht wirklich Phasen der Annäherung.

Ich weiß, dass es jetzt erstmal eine politische Lösung geben muss. Ich weiß, dass die halbe Weltpolitik gerade zusammentritt und versucht, irgendwas zu finden, damit die Situation sich wenigstens ein wenig entspannt.

Kurz gesagt: Das ist mir zu groß. Ich kenne keine politische Lösung des Konflikts, die stabil wäre. Ich kann das nur kleiner denken, ich kann das nur in der eigenen Bubble denken, ich kann nur hoffen, dass sich Narrative durchsetzen, die vielleicht irgendwann politische Konsequenzen haben. Deshalb: Eine kleine Anleitung übers Erzählen von dir, jetzt, von mir.

1. Ich habe ja eben gesagt, man hat politisch alles Mögliche probiert seit der Unabhängigkeit und die Gewalt war immer da. Den Pogrom der Hamas vom 07. Oktober auf die illegalen Siedlungen oder Netanyahu zu schieben, ist leider Blödsinn. Die Hamas labert von morgens bis abends vom Endsieg, und ich glaube, ein Rave- Festival zu massakrieren, auf dem 22- jährige Akademikerkinder ein Wochenende komplett durchpeppen und MDMA- Bowle saufen, ist kein Statement gegen Netanyahu, zumal wahrscheinlich wenige Menschen auf nem Rave- Festival zum konservativen Wähler*innenblock gehören, um mich hier mal ganz weit aus dem Fenster rauszulehnen. Ich war übrigens genau zu dem Zeitpunkt, als das Festival in der Wüste Negev überfallen wurde, selbst auf nem Rave in Leipzig, darüber bin ich noch nicht hinweg, obwohl es so peinlich klein klingt.

2. Bitte seid vorsichtig mit Beschreibungen wie Genozid. Ich komme aus einer antifaschistischen Tradition, in denen ein Land eigentlich kein Existenzrecht mehr hat, wenn es einen Genozid begeht (Deutschland, ihr wisst schon). Der Scheißgrundkonflikt ist aber: Dass es auf beiden Seiten mehr als genug Leute gibt, die denken, die anderen sind irgendwie illegitim und gehören da nicht hin. Überhaupt alle Statements, die auch nur im Leisesten so interpretiert werden könnten, können nicht ohne ein ‚aber‘ stehen bleiben.

3. Was am 07. Oktober passiert ist, war der größte Pogrom gegen Jüd*innen seit dem 2. Weltkrieg. Deshalb erlaubt mir den Vergleich. Heute ist die Reichspogromnacht 85 Jahre her, eigentlich ging das ganze 1938 eine Woche lang, es waren die ‚Novemberpogrome‘. SA- Leute sind eine Woche durch die Straßen in Deutschland gegangen und haben alle totgeschlagen, die sie für jüdisch gehalten haben. Trotzdem sind in dieser Woche nur ein Bruchteil der Menschen gestorben, die am 07. Oktober 2023 hingerichtet wurden.

4. In Deutschland gibt es das Phänomen der ‚German Guilt‘. Deutschland sei ’nur auf der Seite Israels‘ wegen des Holocausts, eine Argumentation, die innerhalb der gesellschaftlichen Linken verbreitet ist. Schiebt euch eure ‚German Guilt‘ in den Arsch. Ich komme aus einer Familie, die auf der Seite der Alliierten gekämpft hat, ich bin benannt nach meinem Uropa, der ganz sicher Wehrmachtssoldaten und Leute aus der Waffen-SS getötet hat. Ich habe keine ‚German Guilt‘, aber ich war mal in ner KZ- Gedenkstätte. Und die Message dort ist: ‚Was uns passiert ist, darf nicht nochmal passieren.‘ Diese Message ist nicht bloß an die Söhne der Nazis gerichtet, sondern an die Menschheit. Mit allem, was man hat, gegen so einen Angriff wie den der Hamas zu stehen, ist die Aufgabe aller.

5. Wisst ihr, an wen mich die Hamas tatsächlich noch viel mehr erinnert als an die SA? Die ganzen Incel- Amokläufer oder den Attentäter von Halle, die ihre Taten auch immer schön livegestreamt haben, um noch im Internet dafür abgefeiert zu werden und die Opfer bis in ihre Ewigkeit zu verhöhnen.

6. Haben wir eigentlich noch Hoffnung in die deutsche Politik? Friedrich Merz (eigentlich: Joachim-Friedrich Martin Josef Merz, kann man ruhig mal aussprechen) und Konsorten liegen wie immer falsch, es ist abstoßend, vor ‚importiertem Antisemitismus‘ zu warnen. Wenigstens ist es jetzt besonders auffällig peinlich, das zu tun, während Markus Söder gerade Koalitionsverhandlungen mit Hubert Aiwanger in Bayern führt.

Sich gegen alle diese Scheißer zu stellen, ist vollkommen richtig.

7. Es gibt 2 Gruppen von Menschen, die in Deutschland jetzt am Arsch sind. Jüdische Menschen und muslimische Menschen (insbesondere arabische Menschen, insbesondere Palästinenser*innen). Die Übergriffe auf diese Gruppen sind dramatisch angestiegen. Ich will nicht wissen, wie sich Berliner Jüd*innen fühlen, wenn sie rausgehen und da ist ein Davidstern an der Wohnungstür draufgemalt, ich will nicht wissen, wie sich Palästinenser*innen fühlen, die, anstatt zu trauern oder zu kämpfen, sich die ganze Zeit erklären müssen, keine Terrorist*innen zu sein.

Eine weitere eklige Dimension sind natürlich die islamistischen Flaggen auf einigen Demonstrationen, an dieser Stelle nur eine kleine Erinnerung, dass es in Deutschland eine Menge Menschen gibt, die vor Islamismus und diesen Flaggen geflohen sind und was für eine reale Bedrohung das wiederum für sie ist. Als ob die deutsche Mehrheitsgesellschaft nicht schon Bedrohung genug ist.

8. Diese Arten von Übergriffen gibt es jetzt in der ganzen Welt. Einmal hatte ich was zu lachen. Am Wochenende im US- Bundesstaat Indiana fuhr eine 34-jährige Frau ihren Wagen in ein Gebäude, in dem Glauben, es sei eine jüdische Schule und sie würde ein paar Kinder totfahren. Das Gebäude war aber eigentlich das Gemeindezentrum der Black Hebrew Israelites, einer antisemitischen Verschwörungssekte, die halt auch einen Davidstern im Logo haben. Keiner wurde verletzt, die Täterin sitzt im Knast und so ist es einfach nur hilarious.

9. Das Internet ist der Ort, an dem alle immer vom Schlechtesten in den Menschen ausgehen. WARUM ÄUSSERST DU DICH NICHT ZU XY? VERURTEILST DU ALSO Y NICHT, ICH HABE DICH NUR ÜBER X SCHREIBEN GEHÖRT. Alles zwischen ‚Israel muss sich gegen die Hamas verteidigen‘ und ‚Free Palestine‘ ist absolut legitim, es soll sogar Leute geben, die beides gleichzeitig denken.

Man muss nicht zu allem etwas sagen. Mir ist sehr bewusst, in dieser Kolumne mehr auf die Hamas eingegangen zu sein als auf andere Aspekte des Konflikts, aber das liegt nicht an meiner Egalheit gegenüber den andere Sachen, sondern schlichtweg daran, dass ich meine, das besser zu verstehen oder einschätzen zu können. Dass ich das überhaupt sagen muss, macht mich schon ein wenig traurig.

Ansonsten: Raus aus dem Internet! Es gilt das gleiche wie bei allen anderen Kriegsgebieten: Fragt Leute, von denen ihr wisst, dass sie involvierte Leute kennen, wie es ihnen geht. Wie ihr ihnen helfen könnt. Interessiert euch für das Leben, man kann nur etwas Neues lernen.

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