Algen und Vergebung #30

Ich bin sehr froh, diese Kolumne zu haben, denn ich muss hier gar nicht immer über Krieg schreiben, sondern über alles, was mich beschäftigt und heute gibt es eine richtig schöne und ein wenig traurige Geschichte. Bevor ich sage, worum es geht (und damit ihr mich weder auslacht noch irritiert werdet), muss ich euch erklären, wie mein Kopf funktioniert und endlich die Frage beantworten:

Wie kommst du immer auf die Themen in deiner Kolumne, Boris?

Ich habe festgestellt, dass ich manchmal emotional auf Dinge reagiere, bei denen ich im ersten Moment überhaupt nicht verstehe, warum das so ist. Einige Jahre Therapie, vor allen Dingen aber das Schreiben hat mir eröffnet, dass ich stetig mehrere Sachen gleichzeitig denke, die sich alle gegenseitig widersprechen oder zumindest nur lose miteinander zusammenhängen. Ich brauche Zeit, darüber nachzudenken, was ich gerade gedacht habe, um alle diese Sachen ins Bewusstsein zu holen und zu entblättern. Vielleicht ist es ja bei allen so, aber bei mir ist das auf jeden Fall so.

Und so passiert mir das manchmal, dass ich auf irgendeine Sache emotional reagiere und dann im Nachhinein so viel darüber nachdenken muss, was gerade passiert ist, dass da ein Riesenhaufen wundersamer Dinge aus meinem Leben herausgeholt werden. Bei mir passiert kontinuierlich die Einstiegsszene von Marcel Prousts ‚Auf der Suche nach der verlorenen Zeit‘, in der der Protagonist als Erwachsener in ein Madeleine- Küchlein reinbeißt und das genauso schmeckt wie ne Madeleine aus seiner Kindheit und daraufhin zieht das ganze Leben an ihm vorbei (auf nur 4500 Seiten, nein, keine null zu viel). Das ist mein Leben in meinem Kopf, aber immer.

Vorgestern hatte ich einen Madeleine- Moment

Die Zeit Online- Startseite wurde einmal zu oft refresht und dann war sie da, die Meldung, eine Meldung, von der ich wusste, dass ich sie irgendwann lesen würde, aber die mich sofort in ein Fass Melancholie fallen ließ: ‚Letzte Märkte der Supermarktkette Real sollen 2024 schließen‚.

Ja, ich war ja auch überrascht. So ein Konsumopfer bin ich? Was ist los?

Also nun: Ihr wisst, meine Familie kommt aus der Sowjetunion. Sie hatten viel sozialen Status aufgegeben, um nach Deutschland hin

zu kommen, aber was wirklich niemand und auch sie nicht hatten, war: Geld. Es gab mal Zeiten des extremen Mangels, es gab Zeiten, in denen es mal gereicht hat. Mein Opa ist zum Beispiel 1940 geboren, er war das erste Mal satt als Teenager. Als Kinder auf dem Dorf haben sie manchmal irgendwelche Frettchen gefressen, die sie in den Sträuchern gefunden haben. Ja, is so.

Dann brach die Sowjetunion auseinander und sie wurden vom Beckenrand des sowjetischen Lebens in den Swimming Pool des Kapitalismus getreten.

Wenn einem das als erwachsener Mensch passiert, gibt es eigentlich nur zwei Arten, wie man mit den plötzlichen Konsummöglichkeiten umgehen kann.

Der ersten Art gehörte meine Mutter an, die gelernt hat, mit allem sehr sparsam umzugehen und insbesondere Verbrauchsgegenstände wie Lebensmittel als außerordentlich wertvoll zu betrachten. Wenn zu Hause was verschimmelt ist, wurde sich gegenseitig vorgeworfen, es nicht früher gegessen zu haben. Ich durfte als 7-jähriger Jurassic Park mitgucken, habe mit 10 schon einige Holocaustfilme gesehen, aber wenn irgendjemandem ne Torte ins Gesicht geworfen wurde, hat sie weggeschaltet. ‚So kann man mit Lebensmitteln nicht umgehen‘.

Der zweiten Art gehört mein Opa an. Der Mann hat sein Leben lang als Ingenieur und Physiker gearbeitet, aber das Konzept von Überfluss kann er emotional und intellektuell nicht verstehen, weil es so außerhalb seiner früheren Lebenserfahrung liegt. Kurz: Er neigt dazu, alles zu kaufen. Weil er nämlich selbst wie ein Kind mit großen Augen in den Supermarkt geht und einfach nicht fassen kann, was es alles gibt.

Meine Kindheit wurde vor allen Dingen durch eine Stadt geprägt: Paderborn. Der größte Konsumtempel dort war und ist das Südring- Center. Dort gab es alles. Über tausend Parkplätze in einem immer stinkenden Parkhaus. Einen MediaMarkt, in dem ich 2 Stunden lang auf die Fernsehwand hätte starren können. Einen Aldi, der noch viel länger als andere Aldis diesen 90er- Discounter- Flair hatte mit den völlig vergilbten Kacheln an der Wand und ohne Regale, sondern nur mit reingefahrenen Palletten. Im Sommer einen kleinen Eisstand, in dem es Softeis mit der leckersten Schokoglasur der Welt gab. Vor Schulbeginn einen Stand, in dem die billigsten Schulhefte und die größten Sparfüchse Ostwestfalens (meine Eltern) aufeinander trafen.

Aber die Hälfte dieses Einkaufscenters, dem Südring, war ein einziger, gigantischer Supermarkt, Real. Ich muss erklären, was ein Real gewesen ist.


Ein Drecksladen, in dem es alles, und zwar wirklich alles, gab.

Es ist nämlich kein Kaufland, in dem es eine nachvollziehbare Logik gibt, wo die Lebensmittel einsortiert sind und Leute in etwas zu engen Gängen schnell mal durchgeschleust werden können. Es ist kein REWE, die sich fast alle so sehr ähneln, dass ich in jeder verdammten Stadt in Deutschland weiß, wo die Produkte sind, weil ich mal vor über 10 Jahren in einem gearbeitet hab.
Es ist kein EDEKA, der das Flair eines abgeschlossenen BWL- Studiums hat. Nein, alle diese Supermärkte lassen einen fühlen, als ob man selbst der Gebrauchsgegenstand ist, greif zu, und schnell wieder raus hier.

Ein Real hingegen, da konnte man nicht so schnell durch. Es gab nämlich keine Logik, wie alles einsortiert war. Alles gab es an zwei Stellen, von denen man keine gefunden hat, alles in 45 Preisklassen, du konntest dir dort ne Waschmaschine kaufen oder ein Fußballtrikot, ich habe dort meine erste CD und meinen ersten MP3- Player gekauft. Die Lebensmittelauswahl ist unfassbar gewesen, ich habe dort Produkte von Herstellern gesehen und gekauft, die ich davor und danach nie wieder gesehen habe. Real war ein bisschen wie ein Aldi, in dem alle 52 Angebotswochen gleichzeitig stattfinden. Die Gänge waren so irritierend und es gab so viele davon, man konnte sich nur verlaufen und hat das regelmäßig gemacht.

Dort, im Real am Südring in Paderborn, ist man auf Verwandtschaft gestoßen, die man schon seit Jahren nicht mehr gesehen hat und hat ein Pläuschchen geführt. Man konnte in diesen Supermarkttempel nur reingehen, wenn man viel Zeit mitgebracht hat. Und so bin ich manchmal mit meinem vollkommen konsumunkritischen Opa da hingefahren und habe mir irgendeine Limonade, die ich noch nie gesehen habe, ausgesucht und bin wie der glücklichste Junge der Welt zu ihnen in die Wohnung gefahren, um dort festzustellen, was für eine Drecksscheiße ich mir da eigentlich gekauft habe und ‚blau‘ kein Geschmack ist.

Auf ne ganz seltsame Weise war das alles so schlecht organisiert und so gegen das Einkaufen gerichtet, so unästhetisch, so trashig, natürlich musste diese Firma irgendwann Pleite gehen.

In Leipzig war ich nur ein einziges Mal im Real. Ganz am Stadtrand, irgendwo zwischen Grünau und Schkeuditz, bin ich 2018 oder 2019 mit meiner Ex- Freundin zu einem Kleingartenverein gefahren, wo sie als Kind viel gewesen ist. Schon wieder Kindheitserinnerungen. Nicht so weit weg von dort gab es einen Real, auch der groß wie ein Flughafen, es war Sommer und irgendwann musste man halt was zu Trinken holen. Wir haben dann erstmal Alkohol gekauft, weil der Tag so schön war und ich kann mich dran erinnern, nochmal das eigene Kind gefunden zu haben und Stuff in den Einkaufswagen geschmissen von Herstellern, die ich vorher nie gesehen habe. Kann mich an einen gekühlten Milchkaffee erinnern, der wahnsinnig lecker war, sogar der einzelne Keks im separaten Fach oben hat geschmeckt. Nie wieder den Hersteller gesehen.

Und das wars jetzt nun. Real ist vorbei. Ich ärgere mich ernsthaft, dass es kein Foto mit mir als Kind gibt, wie wir vorm Südring stehen. Für den Real in Paderborn steht jetzt übrigens auch ein Kaufland und alle in meiner Familie finden den scheiße, werden richtig wütend, wenn sie darüber nachdenken. Für mich ist das ein Teil der Kindheit gewesen, für sie ein Teil des Deutschlands, dass sie kennengelernt haben.

Natürlich gehts hier eigentlich nicht um Supermärkte. Ich beobachte bloß an mir selbst, nochmal die 47. Wendung zu nehmen, was die Erinnerung an die eigene Kindheit betrifft. Und der Supermarkt ist im Gegensatz zu meiner, sagen wir, ‚turbulenten‘ Kindheit ein Ort der Ruhe gewesen. Ich gehe immer noch wahnsinnig gerne einkaufen. Kann da immer noch abschalten. Kaufe mir immer noch irgendwas Kleines dazu als ‚Belohnung‘, Lebensmittel sind schließlich wahnsinnig wertvoll, hab ich ja gelernt. Supergesunder Umgang, ich weiß, aber ich scheiß drauf, so lange ich nicht absolut Pleite bin. Ist schon seltsam, wie man sich das Leben so einrichtet. Und dann lese ich so eine Schlagzeile und alles kommt geflossen. Schon peinlich. Und so schön.

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