Algen und Vergebung #32

Warum dauert das schon wieder so lange, Boris? Ja, ich weiß. Mit ein bisschen Verspätung: Frohes Neues! Diese Kolumne wird jetzt wieder regelmäßig erscheinen.

Also was ist passiert? Lasst mich ausholen.

Es gibt ja diesen psychologischen Kniff, der manchmal am Ende einer Therapiestunde gemacht wird und zwar wird eine kleine Traumreise gemacht, die therapierte Person soll sich hineinversetzen in die Wohnung der eigenen Kindheit, den Geruch, das Aussehen, und sich in den Flur begeben, langsam auf das Kinderzimmer zugehen, die Tür öffnen und sein 7-jähriges Ich dort sehen. Dann kommt die Frage aller Fragen: Was würdest du gerne deinem 7-jährigen Ich sagen? Keine Zwiebel dieser Welt drückt so viele Tränen aus den Gesichtern wie diese Frage. Es wird geheult. Alle machen das. Immer, wenn diese Frage gestellt wird.


Das vergangene Ich muss natürlich nicht 7 sein, es kann auch ein anderes Alter haben, es muss nur weit genug vom jetzigen Leben weg sein.

In den vergangenen Wochen musste ich oft an das 18-jährige Ich denken und was ich dem wohl sagen würde. Es sind nämlich zwei Dinge von Bedeutung passiert.

Ich hatte um Silvester herum mal wieder einen mentalen Totalabsturz, wirklich nicht weit von Klinik weg, und ich als alter Depressionsprofi wusste: Ich muss aus Leipzig hinaus und hinein in die Nicht-Existenz nach Ostwestfalen und mich vor der Welt verstecken für ein paar Wochen, bis langsam der Sog der Gedankenstrudel abhallt und die Einsamkeit durchgearbeitet wurde, oder sich wenigstens in ein ‚Fuck You, Welt‘ transferiert hat.

So brauchte ich 4 Wochen, bis ich halbwegs wieder beisammen war, und musste dann auch schnell wieder in die ‚reale‘ Welt zurück, es gab nämlich: Einen Termin, den ich nicht mehr absagen wollte.

Nach einer Nacht in Leipzig ging es nach Berlin, ein Auftritt, das erste Mal bei einem Queer Slam und dann auch noch: Im SO36.

Nochmal ein Rückblick auf das 18-jährige Ich: In der konservativen Einöde Ostwestfalens bin ich in der Oberstufe plötzlich links geworden. Eigentlich kann ich das immer noch nicht richtig nachvollziehen, was da genau passiert ist, ich schätze, ich fand die Leute cooler und coolere Leute bedeutete dort: Man hörte die bessere Musik und auf intensivere Art und Weise. Außerdem wollte man unbedingt weg aus Ostwestfalen.

Und so kamen zwei berauschende Wunschorte zustande: Das SO36 in Kreuzberg und die Rote Flora im Schanzenviertel. Beide weit weg, beide verwunden mit Musikkultur, über beide sagte man: Da will ich mal hin.

Und nun war ich also da im Februar das erste Mal in meinem Leben und dann nicht im Publikum, sondern auch noch auf der Bühne. Mit dem Abend drumherum zusammengenommen einer der besten Poetry Slam- Auftritte, die ich je hatte.

Was hätte ich also dem 18-jährigen Ich gesagt?


‚In 10 Jahren stehst du im SO36 selbst auf der Bühne und das Publikum wird dir zujubeln, aber du hast rezidivierende Depressionen, die hast du übrigens auch jetzt schon, aber noch hats keiner diagnostiziert. Die Migräneanfälle werden aber verschwinden, wenn du regelmäßig 8 Stunden schläfst.‘ In anderen Worten: Das (Über-)Erreichen deiner Wünsche wird dich auch nicht glücklich machen. Ich kann froh darüber sein, dass Zeitreisen nicht möglich sind.

Sind also die Wünsche falsch gewesen?

Wenn mir mit 18 jemand gesagt hätte, was für unglaublich coole Menschen mich schlau oder witzig oder schön finden würden, wie fein die persönlichen Beziehungen sein würden, wie sehr ich mich selbst ausleben könnte, mit wem ich geredet hätte, was für Konzerte ich gesehen und auf wie vielen Bühnen ich aufgetreten wäre, ich hätte das alles nicht geglaubt.

Nun ist das aber alles passiert, ich hab mich selbst in die extrem coolen Stadtviertel in einer der blühendsten Städte in Mitteleuropa eingefügt, bin sozial vom Außenseiter zum Mittelpunkt aufgestiegen in Kreisen, die wesentlich exklusiver sind als so ein Abiturjahrgang in Ostwestfalen.

Ich weiß jetzt nicht, ob man da stolz drauf sein soll, ich will nicht mal Zufriedenheit, ich möchte nur: Nicht so einsam sein.

Ist das der Preis, den man bezahlt, wenn man sich selbst ausleben möchte? Wenn man sich von seinen Wurzeln verabschiedet, weil die auch ganz schön modrig sind? Ich wünschte, ich könnte es meinem 18-jährigen Ich besser erklären. Oder irgendjemandem.

So: In der nächsten Kolumne gehts, versprochen, nicht so sehr um mich, sondern um Politik oder sowas. Das gute alte Herabgeschaue (mit maximal einer Prise Selbstironie), was mit einem selbst immer nur systemisch und nicht so sehr persönlich zu tun hat, wo man abgeklärt sein kann und cool und vielleicht: Nicht mehr ganz so einsam.

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