Algen und Vergebung #33

Jetzt, gut eine Woche, nachdem Jesus gestorben ist, können wir hier mal etwas beleuchten, über das wir noch nie gesprochen haben in dieser Kolumne: Das Christentum.

Genuer genommen geht es heute um den Katholizismus, eine Konfession, der ich nie angehört habe.

Bei mir war das so: Meine Eltern kamen aus nem atheistischen Land und waren selbst überzeugte Atheist*innen, und dann kamen sie nach Deutschland, in den Westen, und allen war klar: Wenn wir in unseren Perso reinschreiben ‚konfessionslos‘, dann ist ja allen sofort klar, dass wir nicht ‚von hier‘ sind. Und deshalb haben sie die deutschen Behörden angelogen, dass sie ‚evangelisch‘ seien, aber leider, leider nun mal keine Papiere haben, die das belegen könnten. Das haben sowohl die deutschen Behörden als auch die lokale evangelische Gemeinde, die nun Kirchensteuer von meinen Eltern erheben konnte, widerspruchslos hingenommen.

Und damit ich auch nicht auffalle, wurde ich gleich als Kleinkind getauft. Außerdem hatte das den schönen Nebeneffekt, dass ich seitdem Pateneltern habe. Meine Eltern hatten nämlich immer Schiss, dass denen irgendetwas zustoßen könnte und sie dann nicht wissen, was mit mir passiert. So viel zum Thema Sicherheitsgefühl von Migrant*innen in Deutschland.

Sie haben sich ‚evangelisch‘ eintragen und mich evangelisch taufen lassen, denn ‚katholisch‘ wäre ihnen dann doch zu hart gewesen. Überhaupt hat der Katholizismus einen schlechten Ruf, gerade in linksliberalen oder agnostischen Kreisen. Der Katholizismus ist der große, konservative Bruder, der als Kind im Garten die Ameisen mit ner Lupe verbrannt hat und auch als Erwachsener eigentlich vor allen Dingen borniert geblieben ist, der Protestantismus hingegen die kleine, progressive Schwester, die gut in der Schule war und einen großen Teil ihres Einkommens an gemeinnützige Organisationen spendet.

Ich möchte nun mit diesen Vorurteilen aufräumen. Denn der Katholizismus kann etwas, was der Protestantismus nicht kann:

Lasst es mich so beschreiben. Im evangelischen Glauben steht die Nächstenliebe über Allem. Aber jetzt mal unter uns, das ist ganz schön viel verlangt von nem Menschen, das permanent zu zeigen, da kann man ja nur dran scheitern.

Im Katholizismus hingegen ist allen immer klar, dass der Mensch richtig viel Scheiße baut. Und das gehört zum Menschsein dazu. Wie sonst soll man ein Konzept wie den Beichtstuhl erklären? Wozu die ganzen Vorgaben, was man nicht tun soll, wenn man damit nicht impliziert, dass das genau die Verhaltensimpulse sind, die ein Mensch eben hat? Das erfordert tiefe Einblicke in die Psyche des Menschen und entfaltet fast schon eine psychoanalytische Kraft.

Das ist natürlich wahnsinnig interessant für mich. Insbesondere ein Konzept aus dem ganz, ganz frühen Katholizismus hat es mir total angetan: Das Konzept der 7 Todsünden. Neid, Völlerei, Habgier, Wollust, Hochmut, Trägheit, Zorn. Ich bin erstaunt darüber, wie relevant das alles immer noch ist, man könnte Therapiestunden machen dazu, wie ‚anfällig‘ man eigentlich ist für die einzelnen Eigenschaften.

Und genau das machen wir heute. Ich gehe alle Todsünden durch, von gar nicht ausgeprägt bei mir bis total ausgeprägt bei mir. Und das ist natürlich eine Servicekolumne, liebe Leser*innen, geht auch ihr gedanklich durch, welche der Eigenschaften euch in eurem Leben begleiten. Viel Spaß!

Wirklich absolut gar kein Problem

Eines dieser Gefühle habe ich so selten, dass ich es, wenn ich es mal doch fühle, gar nicht richtig zuordnen kann. Als Kind uns als Heranwachsender habe ich das durchaus manchmal gefühlt, doch spätestens mit Anfang 20 war Schluss damit.

Und dann ist aber was passiert: Im ersten Coronasommer ist meine Mutter mit 52 gestorben. Da saß ich 1-2 Tage nach der Nachricht auf dem Balkon in den Hinterhof, die Sonne schien und auf dem Weg unter mir gingen zwei alte Frauen lang, die sich über Belanglosigkeiten unterhielten. Die alten Leute keine Seltenheit, es gibt einige Altenheime und viel betreutes Wohnen in der Gegend, doch diesmal wollte ich die alten Frauen nicht sehen. Ich bin richtig wütend geworden auf sie, fand sie richtig eklig, bis ich mir gedacht habe: Was ist denn los? Sie haben mir doch nichts getan.

Und dann habe ich verstanden: Ich bin neidisch auf sie, weil sie so alt werden konnten und meiner Mutter nicht. Und ich habe nicht kapiert, dass es Neid war, weil ich das seit Jahren nicht mehr gefühlt habe. Übrigens seit dieser Erfahrung auch nicht mehr.

Warum das bei mir so wenig präsent ist? Ich glaube, der Impuls von Leuten, bei Anderen zu denken ‚wie geil ist deren Leben denn? Das hätte ich auch gern‘ fehlt bei mir, stattdessen denke ich ‚Ich glaube, deren Leben ist auch schlimm, ich sehe nur noch nicht, warum‘.

Wirklich kein Problem

Wenn man sich in einer Bubble bewegt, in der ökonomische Fragen so intensiv diskutiert werden wie der linken Bubble, dann wird man irgendwann feststellen, dass Materialismus einfach richtig richtig wichtig ist für viele Menschen. Mir nicht. Zeug ist egal, ich könnte mich von fast allem, was ich besitze, sofort verabschieden, nur ein paar Sachen sind wichtig, haben aber hohen emotionalen Wert für mich (oder sind eine Gitarre). Sobald ich etwas Geld habe, wird verprasst. Möglichst für Dinge, die man schnell durchbenutzt wie ein langer Abend in ner Bar, ein Urlaub oder ein Restaurant, von denen wirklich nichts übrig bleibt außer ein paar Fotos oder ein Alkoholkater. Kaum etwas liegt mir also ferner als die Habgier. Habe das einfach nicht.

Wirklich eher kein Problem

Die Wollust. In einigen aktuellen Diskursen kann ein Mensch ja kaum etwas Schlimmeres sein als horny. Sexualität und Geilheit werden als Gesprächsthemen wieder in so eine Nische abgeschoben, in der dann mal offen über Kinks usw geredet wird, aus sämtlichen anderen Diskursen wird Begehren verbannt, eigentlich noch nicht mal verbannt, ignoriert. Man tut so, als ob das einfach nicht existiert. Ich weiß, dass manche damit nicht so gut klarkommen. Ich aber schon. Mir ist das Begehren jetzt nicht fremd, aber ich find Begehrtwerden schon ein bisschen geiler. Und dann einfach mal ’nein‘ sagen. Ganz schön unsexy.

Wirklich ein Problem, aber im Griff

Danke, Jesus, für die Entwicklung, Herstellung und meinen Zugang zu Serotoninwiederaufnahmehemmern. Seit ich diese Antidepressiva einnehme, haben sich nicht nur meine Launen stabilisiert, sondern eine Art des Gedankenkreisels hat sich komplett erledigt. Die des Gedankenkreisels voller Zorn. Das ist nämlich wirklich ein Problem gewesen, es gab Rachephantasien, kaputtgeknallte Türen und vieles Andere und das ist einfach vorbei jetzt. Bloß weil irgendein Hormon im Kopf an irgendwas ankoppelt.
Versteht mich nicht falsch, ich bin nicht der friedliebendste Mensch geworden, und weißgott rege ich mich leidenschaftlich über Dinge auf, aber der Jähzorn, das Unverzeihliche, die Rachegelüste sind eingestellt.

Wirklich ein Problem

Kurz ein Bibelzitat: Wie fast alle wirklich interessanten Aussagen, steht auch dieses Zitat im Alten Testament und zwar in den Sprüchen Salomos. Da heißt es: „Wer zu Grunde gehen soll, der wird zuvor stolz“ (so viel zum Thema Patriotismus) und weiter: ‚und Hochmut kommt vor dem Fall‘. Wer diese Kolumne liest, der weiß, wie viel Herablassung, Anmaßung und Überheblichkeit aus mir herauskommt. Ja, ich bin dafür, Respekt vor Institutionen oder Autoritätspersonen zu verlieren und manchmal schieße ich auch mal übers Ziel hinaus und das ist dann der eigene Hochmut.

Da fällt es mir auch schwer, irgendwie anders zu sein. ‚Man soll sich nicht mit anderen vergleichen‘, aber wie sonst soll man denn überhaupt irgendwas werden oder sein? Wir sind eben soziale Wesen, und die Abwertung anderen Verhaltens ist zumindest eine Verlockung, die immer da ist. Ist allein die Aufstellung von 7 Todsünden nicht in sich schon hochmütig? Also mal ehrlich.

Wirklich ein gewaltiges Problem

Im Superduperendkapitalismus muss man ja 37 Sachen gleichzeitig sein (vgl. ‚Barbie‘, Greta Gerwig 2023) und wenn man bloß 36 sein kann, dann wird einem das schon als Faul- bzw Trägheit ausgelegt.


Während man vor 30 Jahren einfach nicht erreichbar gewesen ist, wenn man einkaufen oder spazieren gegangen ist, und Briefe auch mal ne Woche brauchten, bis sie in den eigenen Kasten ein- und wieder zurückgesendet wurden, gilt heute jemand, der die Mail nicht am gleichen Tag beantwortet, schon als nervige Last, mit der man beruflich und/oder privat nichts mehr zu tun haben will (und vielleicht auch nicht kann, wegen Superduperendkapitalismus).

Das ganze Konzept von Prokrastination war den Menschen bis ins 20. Jahrhundert völlig unbekannt, aber nicht, weil niemand prokrastiniert hat, sondern, weil es niemandem aufgefallen ist. Heute ist das unmöglich.


Natürlich habe ich das auf die Spitze getrieben, ich schreibe Nachrichten auch manchmal erst nach ner Woche oder nie zurück. Und so rinnen einem die sozialen Kontakte und beruflichen Möglichkeiten wie feiner Sand durch die Finger, bis man alleine stirbt, bloß weil man so bestialisch war, auf Dinge manchmal keine Lust, keine Zeit oder keinen Raum im Gehirn gehabt zu haben.

Wirklich ein lebenszerstörend gewaltiges Problem

Wer mitgezählt hat, weiß, es fehlt nur noch eine Sünde.

Ich kenn kein Maß. Ich will kein Maß. Die Völlerei ist mein Problem.

Diese wird gerne aufs Essen bezogen, da sieht es gar nicht so schlecht aus bei mir. Ich ernähre mich schon mehr nach Auge als nach Hirn, aber mein Körper gibt mir auch regelmäßig Signale, ob es bei der nächsten Mahlzeit ein grüner Salat, ein Karamellkeks oder ein Suppenlöffel randvoll mit Tzatziki sein sollte.

Aber in allen anderen Lebensbereichen ist die Maßlosigkeit mein Problem. Ich ziehe mich exzessiv zurück, wenn es mir schlecht geht, ich gehe exzessiv raus, wenn es mir gut geht, meine persönlichen Beziehungen sind exzessiv. Mir reicht nie irgendwas aus, so kommt man nicht zur Ruh, warum hast du keine Zeit heute, Mittelmäßigkeit stinkt, alles muss krass sein, das Normale ist der langsame Tod.

Ich wurde so erzogen, ich habe es mir angeeignet, ich habe es lieben gelernt und jetzt stehe ich vor der Frage: Wie viel Maßlosigkeit ist maßvoll? Wie viel Völlerei kann ein Mensch ertragen? Oder bleibe ich jetzt einfach so?

Was ihr gesagt habt

Mich langweilt ja Instagram ungemein, insbesondere, weil ich nicht weiß, was ich damit anfangen soll. Doch nun habe ich ein Tool für mich entdeckt, was mir Instagram versüßt und es ist: Die Umfrage. Ich habe euch gefragt, für welche Todsünde ihr denn am Anfälligsten seid.

Ich habe ja gesehen, wer was geantwortet hat, und ich kann euch sagen: Bei vielen von euch dachte ich, also das habt ihr doch richtig gut im Griff eigentlich. Ist doch schon mal ein guter Schritt, wenn ihr euch damit auseinandersetzt.

Die Ergebnisse: Die Trägheit ist euer größtes Problem gewesen, der oben beschriebene Endkapitalismus scheint also systemisch zu sein (wer hätte das gedacht). Ist ja klar: Wenn alles so hochbeschleunigt hat, ist jeder, der das Leben nicht durchsprintet, träge.
Beliebt waren bei euch ebenso ‚Neid‘ und ‚Völlerei‘. Den ‚Neid‘- Menschen kann ich ein Seminar zum Thema ‚Wie werde ich nicht neidisch?‘ geben, mit den Völlerei- Menschen würde ich gerne eine Woche lang Exzess machen.

Nur eine Stimme und damit die Wenigsten gab es für Zorn. Das wundert mich nun überhaupt nicht, in unserer Generation hat ja wirklich überhaupt niemand irgendeinen Zugang zur eigenen Wut, alle Menschen, die mich über ihren Therapiefortschritt am Laufenden halten, erzählen mir, dass sie an ihre Wut ’nicht rankommen‘, Wut ist die verbotene Emotion und so kann natürlich auch niemand ein Problem mit Zorn haben.


Vielen Dank an euch, das war sehr aufregend für mich, bis zur nächsten Kolumne oder Umfrage, je nachdem, was als Nächstes kommt.

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