Algen und Vergebung #34

Fast 11 Jahre lebe ich schon in Leipzig, wenn es überhaupt so etwas wie Heimat für mich gibt, dann ist es jetzt diese Stadt geworden. Manchmal möchte ich anderen Leuten erklären, was hier los ist, denn diese Stadt funktioniert ganz anders als der Rest von Deutschland. Genau genommen würde ich Halle(Saale) mit dazu nehmen, das ist einfach nochmal Leipzig neben Leipzig, nur halb so groß.

Hier ist der Gegensatz so krass, so ausgeprägt, der ganze Westen ist so ein homogener, durchkneneteter Teig, auch Städte im Osten sind das oft, aber hier um den Flughafen Halle/Leipzig ist es anders. Sieht man in einem Stadtteil die absolute studentische Elite, die Klamotten tragen, die die Menschen in Hannover erst in 5 Jahren anziehen werden und über Themen diskutieren, die auch in 5 Jahren niemals in Köln ankommen werden, muss man nur 2 Bushaltestellen weiterfahren und dort regieren die Reichskriegsflaggen und man wird per Hitlergruß begrüßt. In Leipzig werden die Stadtteile entweder von Linke/Grüne gewonnen oder von der AfD. Es gibt nichts dazwischen.

Die 2 wichtigsten Fußballvereine der Stadt (RB wird einfach ignoriert, da kommen Leute vom Land, die sich das anschauen), sind Chemie und Lok, die Fanszene der Chemiker füllt die Seiten des sächsischen Verfassungsschutzes in dem Abschnitt ‚Linksextremismus‘, die Fanszene von Lok hätte die Sendezeit sämtlicher Unterhaltungssendungen in den 90ern (Stefan Raab, looking at you) gefüllt: Denn diese Fanszene ist meistens rechts, aber immer, immer sind es Dullis.

Auch für mich ist es der perfekte Ort zum Leben. Ich bin durch die Schriftstellerei leider Gottes an den deutschsprachigen Raum gebunden und von allen Städten hier ist es die Stadt, in der man noch am ehesten völlig ohne Plan zur eigenen finanziellen Absicherung leben kann. Man muss hier kein Wirtschaftsobjekt sein, man geht nicht unter, im Gegenteil: Man findet Leute ohne Plan, die Loser, die, die selbst in die alternative Szene nicht reinpassen, hier an jeder Ecke. In dem Sinne sind Halle/Leipzig wirklich die Nachfolgerinnen von Berlin, wo es vor 30 Jahren auch so gewesen sein soll.

Wozu erzähle ich das alles? Es gibt eine kleine, viel zu unbekannte Musikkappelle aus Halle, die all diese Gefühle in Perfektion musikalisch umsetzt.

Liebe Stammleser*innen, ihr wisst, was jetzt kommt, das hier ist die dritte Ausgabe von ‚… wird euer Leben besser machen‘ und heute ist es mal nicht ein einzelner Mensch, sondern gleich eine ganze Band:

Sorry3000 werden euer Leben besser machen

Sorry3000. Ein Name wie ein Projekt von Schlingensief. Gehen wir mal in die Texte rein. Lied heißt ‚Entschuldigung‘

Tschuldigung

Tschuldigung

Tut mir Leid

Entschuldigung

Tschuldigung

Tschuldigung

Tut mir Leid

Entschuldigung

Reicht?
Reicht?
Ist es jetzt wieder gut?

Ooooaaaahh

Es reicht noch nicht, oder?
Es reicht noch nicht, oder?

Tschuldigung

Tschuldigung

Tut mir Leid

Und so geht es ein paar Strophen weiter, über klassischen deutschen Indiepop, bis am Ende irgendjemand schreit, und Sängerin Stefanie Heartmann (ja, genau, HEARTmann) ein ganz zusammengeducktes ‚OK, reicht, OK, reicht‘ ausruft. Ende vom Track. Was zur Hölle ist das bitte? Wie kann man denn das mit der deutschen Sprache machen?

Nochmal einen Schritt zurück. Sorry3000 haben jetzt ihr zweites Album rausgebracht. Der Nachfolger von ‚Warum Overthinking dich zerstört‘ ist ‚Grüße von der Überholspur‘, kam vor ein paar Wochen raus, hab ich jetzt gehört, zack, Kolumne. Irgendwo sind sie ne klassische Band vom Label Audiolith (‚Frittenbude‘, ‚Egotronic‘, nur, damit ihrs wisst), aber die Audiolith- Bands sind alle entweder schon von sich aus cool oder haben sich ihren eigenen Geschmack gemacht, nach dem sie beurteilt werden, und sind dadurch ‚cool‘ geworden, wie das auch Deichkind, oder Blond oder Tocotronic gemacht haben. Die deutschsprachige Indieszene hat in dieser Hinsicht ganz schön viel hervorgebracht.

Sorry3000 werden die Nächsten sein. Da wird, wie üblich im Indie- Kontext, die eigene Seltsamkeit nicht als Coolness hingestellt, sondern als Abwesenheit davon. Es gibt kein Über-den-Dingen-stehen, vielmehr liegen Sorry3000 unter den Dingen drunter. So werden die Texte, die sich fast ausschließlich ums Scheitern drehen, davon unterstützt, dass Heartmann und Sänger Frank Leiden (ja, genau, Leiden) beide nicht singen können und es auch noch raushängen lassen, sie wissen, dass die durchproduzierte Version ihrer Stimmen nur zum Nachteil der Songs wären.

Die Texte sind so schön spezifisch. In ‚Scapegoat‘ haben sie besser als jemals zuvor das Gefühl zusammengefasst, was so manche im Studium entwickeln, wenn man ein Seminar besucht, eine Theorie lernt, und plötzlich der vollsten Überzeugung ist, die ganze Welt durch diese Theorie pressen zu können und allen anderen vorzuwerfen, nichts verstanden zu haben.

Über Liebe und Intimität können sie auch noch schreiben. Ihr werdet nicht zurückgeliebt? ‚Portwein‘ ist eure Antwort. Ihr traut euch doch nicht, den nächsten Schritt in der Liaison zu gehen? ‚Zu schwach‘. Ihr habt sexuelle Fantasien, aber findet das peinlich? ‚Nur im Spiel‘.

Trotz (oder wegen?) aller Spezifizität bleiben sie zeitlos. Keine politischen Parolen, allenfalls ‚Du liebst mich nicht, weil ich nicht politisch bin‘. Stattdessen ist jeder Text durchtränkt von der Tragikomik des Lebens. Und die ganzen Ironieschichten, die sich wie eine Zwiebel auf die Songs legen, werden nicht Inhalt der Tracks, sie *federn‘ die Aussagen der Lieder nicht ab, sie schaffen keine Distanz, sondern machen es noch schlimmer. Die Ironie hilft auch nicht, sie wird auch mitvernichtet, es bleibt tragikomisch und das können Sorry3000 in Perfektion.

Ich schreibe ja immer tragikomisch. Geht nicht anders. Mir fehlen die Vorbilder in der deutschen Sprache. Die sind alle entweder intellektuell zu aufgeladen, oder zu dumm, oder nur ironisch oder nur tragisch und zwischendurch erzählt jemand einen Witz. Sorry3000, ihr habts geschafft, ihr trefft es immer. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass ich der einzige Mensch bin, dem es so geht und für sowas habe ich diese Kolumne.

Vielleicht die besten Texte aber, und damit kommen wir zu Leipzig zurück, sind die, in denen die Band über Halle bzw die Region schreibt. ‚Tarifgebiet‘ ist so ein Beispiel, ‚Als Reisender im ICE/ Tut Sachsen- Anhalt niemand weh/ Ruinen-, Dorf- und Flachlandschaft/ Erhöhen Laptoparbeitskraft‘ heißt es da. Reimen können sie auch noch, Herrgott, und das auf deutsch.


Zum Abschluss der Text des Liedes ‚Neustadt‘ über einen, naja, Stadtteil in Halle, der in der DDR als ‚Stadt der Chemiearbeiter‘ einfach hochgebaut wurde. Hört rein, und ich sage: Sorry3000 for ever.

Luftleerer Raum

Auf diesen breiten Straßen

Könnte ein Panzer fahren

Sonnenstrahlenzacken

Auf Realismuswänden

Beschmiert von jugendlichen Händen

In der Schneise vor dem Wohnsilo

Kommt ein 3D- Film im Cinekino

Von Aufbruch und Elan

Was überdauert hat

Ist eine 50- Meter- Schwimmbahn

Verboten beim Umkleiden

Sind dort das Hornhautraspeln

Und Nägelschneiden

Und obwohl ers nicht so warm hat

Fährt ein Student mit Schwimmbeutel und Fahrrad

Die funkelnden Lichter der Neustadt

Funkeln auf mich hinab

Die funkelnden Lichter der Neustadt

Funkeln auf mich hinab

Von 5000 Lichtern der Neustadt

Funkeln 15 mir zu

Aber du

Aber du bist anderswo

Muskeln, Schläge, Schweiß

Ein Eventplakat

Bewirbt die Boxer in der Fight Night

Fortschrittliches Wohnen

Das einzig runde hier

Sind Satelliten auf Balkonen

Und das Management dieses Stadtquartiers

Stellt Visionen vor für die nächsten Years

Die weite Welt zeigt Spuren

Auf blassen Teenageköpfen

Fußballerfrisuren

Sie spielen Handylieder

Und schon wieder stirbt

Ein Erstbezieher

Der Student mit Grünphase und Wind im Rücken

Passiert staunend ein paar neue Sprengungslücken

Die funkelnden Lichter der Neustadt

Funkeln auf mich hinab

Die funkelnden Lichter der Neustadt

Funkeln auf mich hinab

Dem Lichtermeer dieser Neustadt

Fehlen Zähne im Gebiss

Aber du

Aber du, das ist gewiss

Aber du

Aber du bist anderswo

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert