Vor einigen Wochen habe ich mich mit 3 Freund*innen getroffen für ein Schreibwochenende, ganz, als ob mein Dasein als Schriftsteller*in gar keine Träumerei sondern Realität ist.
Da gab es eine Situation, die mich nicht loslässt. Eines Abends saßen wir da und haben über Caroline Wahl geredet, die mit ’22 Bahnen‘ und dem Nachfolgeroman ‚Windstärke 17‘ zwei Überbeststeller in den vergangen 2 Jahren geschrieben hat. Einige von uns haben das gelesen und für richtig schlecht befunden. Im Grunde geht es in den Büchern um Armut und sozialen Aufstieg, und Caroline Wahl hat weder von der einen noch von der anderen Sache die geringste Ahnung. Das Genre der Romane ist: Bücher über Armut von Leuten, die nicht wissen, was Armut ist, für Leute, die nicht wissen, was Armut ist.
Das Gute an den Büchern: Sie haben uns dazu geführt, in unserer eigenen 4- Runde über Klasse zu reden, ein Thema, was ausgerechnet in linken Kreisen in Deutschland vollkommen verschwunden oder nur über theoretische Konstrukte diskutiert wird. Über jegliche Sektionen des intersektionalen Feminismus wird fleißig debattiert, nur Klasse fällt ab.
Wir 4 aber an dem Schreibwochenende, wir 4 kommen alle aus völlig unterschiedlichen sozioökonomischen Verhältnissen, von klassisch Working Class bis zur Bildungsbürgertumselite. Und ich irgendwo dazwischen: Akademiker*innenkind, aber die Eltern sind geflüchtet. Ab einem gewissen Punkt gab es also Geld, aber niemals kannten meine Eltern die Codes, mit denen man in eine höhere Schicht ‚aufgenommen‘ wird.
So dachte ich nach und möchte euch erzählen, von meiner Kindheit.
Das weirde ist nämlich, dass man die eigenen Familienverhältnisse ja immer für normal hält, aber an den Leuten, die um einen herum sind, merkt man, in was für einer Schicht man sich tatsächlich bewegt.
Dass das in den ersten Lebensjahren in Paderborn so war, das war mir eh klar, meine Eltern konnten sich nur eine Sozialwohnung leisten, ich war das einzige Kind im Haus und gegenüber wohnte eine Deutsche, die manchmal Essen vorbeigebracht hat, weil sie sich nicht vorstellen konnte, dass ein Kind in diesem Haus groß wird. Nach 7 Jahren Deutschland bekam aber wenigstens eines meiner Elternteile einen langfristigen Job – in Warburg.
Hier soll es aber nicht um Paderborn gehen, sondern von der ersten Wohnung in Warburg. Ich habe in einem Zimmer gelebt, das vorher als Abstellkammer genutzt wurde.
Unser Vermieter hat bei seinen Eltern gelebt, Herr Wüllrich, in seinen 40ern, so ein dünner, riesiger Mann, der sich unter jedem Türrahmen drunterbücken musste. Sein Vater, dem das Haus eigentlich gehörte, war so ein richtiger deutscher Giftzwerg, so einen stellt man sich automatisch bei der Waffen- SS vor, doch der Sohn hatte eine naive und freundliche Art. Eine Freundin hat er jedoch nie gehabt. Aus dem Männerchor in der Kirche wurde er geschmissen, weil er zu schlecht gesungen hat. Manchmal war er so einsam, dass er zu uns nach Hause gekommen ist und Plätzchen von meiner Mutter gegessen hat. Das war der sozial höchstgestellte Mensch im Umfeld dieses Haus.
Nachbarn waren zum Beispiel die Familie Block, von uns nur Blócki (russ. ausgespr.) genannt, eine Familie mit einer mir bis heute unklaren Anzahl an Kindern. Jedes einzelne Wort aus dem Mund der Eltern war ein Schimpfwort, ‚fick dich, bljad‘, sagten sie und zeigten Mittelfinger, wenn man ihnen in die Augen geschaut hat.
Wie zum Beweis, so nicht werden zu dürfen, war es in meiner Familie absolut verboten zu fluchen, nicht auf deutsch und schon gar nicht auf russisch. Das wurde so konsequent eingehalten, ich KANNTE gar keine russischen Schimpfwörter bis zu einem zu hohen Alter.
Ich dachte immer, diese ganzen Abgrenzungen von meiner Familie beruhen darauf, dass sie sich für außergewöhnlich halten, und das trifft vielleicht auch teilweise zu, aber eigentlich ist das das typischste Verhalten in einer prekären Klasse. Jeder Millimeter in der sozialen Hierarchie wird bis aufs Blut verteidigt. Man kannte nur die eigenen Leute, die Migras. Deutsche waren ein Mysterium, die Einzigen, mit denen man was zu tun hatte, waren Social Outcasts wie eben der Vermieter. Das wussten wir auch: Die meisten sind nicht so wie er, würden nicht zu uns nach Hause kommen.
Die Vorstellungen von höheren sozialen Schichten waren völlig absurd:
Deutsche mit viel Geld und sozialem Status müssten demnach in der Sauberkeit eines Chemielabors leben, von ihnen rieseln die Hautschuppen nicht zu Boden wie bei uns, sie haben schon seit 2 Jahrhunderten kein Glas mehr kaputt gemacht und geredet wird ausschließlich in Goethezitaten, oder Thomas Mann vielleicht, wenn man sich heut mal gehen lässt.
Als ich dann selbst sozial aufgestiegen und mit den Kindern des Bildungsbürgertums im Seminar saß, musste ich feststellen, dass das alles viel eher Slacker sind als irgendjemand aus meiner Familie.
Ich bin in Schichten aufgebrochen, in denen es plötzlich nicht mehr ‚in‘ war, sich adrett zu kleiden, sondern das Gegenteil davon verlangt wurde, wenn man zu den cool Kids gehören wollte. In Schichten, in denen man so etwas Luxuriöses wie Geschmack entwickeln konnte. Wie Kleidung als politische Statements. Wie politische Statements im Allgemeinen.
Ich bin in Schichten vorgestoßen, in denen ‚Geldsorgen‘ etwas völlig anderes bedeutet hat als bei uns damals. Natürlich gab es auch in meinem Umfeld Student*innen, die nicht wussten, mit was sie ihr Essen nächsten Monat bezahlen konnten, aber alle, wirklich alle, haben jemandem in ihrem Umfeld, bei denen sie sich verschulden können zur Not, ob bei den Eltern, den Tanten oder bei Freund*innen, denn irgendjemand hat immer gespart.
Leute debattieren, wenn es um Klasse geht, immer, wie oft im Jahr sie im Urlaub waren.Ich war, bis ich bei meinen Eltern mit 19 ausgezogen bin, 3 Mal im Urlaub. Einmal Goldstrand Bulgarien, schön mit den Eltern, und 2 Mal Verwandtschaft besucht mit meinen Großeltern in Kanada respektive Russland.
Doch nun ist mein persönlicher sozialer Aufstieg passiert: Ich kenne die bildungsbürgerlichen Codes auswendig, und so gut wie niemanden mehr, der ähnlich aufgewachsen wäre wie ich.
Ich kann mein Leben meiner Verwandtschaft nicht mehr erklären.
Und zwar nicht wegen des Altersunterschieds, sondern weil die nicht verstehen, in was für sozialen Kreisen ich mich bewege. Wie soll man so jemandem dann Poetry Slam erklären? Das Unverständnis setzt ja nicht dabei ein, zu erklären, dass sich Poetry Slam irgendwo zwischen Stand- Up, Lesebühne und Theater bewegt, sondern schon dort, wo man erklären muss, dass das wirklich Leute hören wollen und dass man wirklich Geld dafür bekommt, weil es eine soziale Schicht gibt (das Bildungsbürgertum und ihre Kinder nämlich), die tatsächlich Zeit und Geld dafür ausgeben. Das klingt in den Ohren meiner Verwandtschaft so fremd, dass meine Großeltern bis heute denken, dass ich damit noch nie eigenes Geld verdient hab und mir schlicht nicht glauben, dass es anders sein kann.
Und dass ich mit dem Zug nach Berlin fahre, um mich mit 3 Freund*innen über Caroline Wahl zu unterhalten, also das kann nicht nur meine Familie, sondern auch ich manchmal nicht verstehen.