Auf einer Toilettentür im Leipziger Zentrum- West wurde eine aktuelle Debatte im Feminismus (welche allzu gerne verschwiegen wird) perfekt zusammengefasst.
Ich mache ja Nachwuchsarbeit mit U20- Poetry Slammer*innen im soziokulturellen Zentrum ‚Villa‘, die haben viele Angebote für Jugendliche und nach Teenagern sieht das Gebäude auch aus, denn: Jugendliche werden alles, was sie denken, auf Wände ritzen, kleben, schreiben.
So gibt es im Keller von der Villa 2 Toiletten. Eine davon mit Kabinen und einer sogenannten ‚Pissrinne‘ (es klingt schon nach ‚keine Hände gewaschen‘), auf der anderen Toilette nur Kabinen. Früher war auf der einen Tür ein Männlichkeits- auf der anderen ein Weiblichkeitssymbol aufgemalt. Während der Coronapandemie schrieb jemand in großen Lettern auf beide Toilettentüren über die Geschlechtssymbole: GENDER IS OVER. Ich weiß nicht, warum, aber in meinem Kopf muss das im südwestdeutschen Dialekt ausgesprochen werden: GENDER ISCH OVER.
Vor ein paar Monaten gab es Renovierungsarbeiten, die Toilettentür zu den Kabinen und der Pissrinne wurde neu gestrichen, dort steht jetzt All Gender, die andere Toilettentür wurde nicht gestrichen, aber jemand hat in einer anderen Farbe etwas dazugeschrieben, sodass es jetzt neben der All Gender folgende Toilette gibt: GENDER IS NOT OVER.
In Ostwestfalen würde man sagen: Ja, wassen jetzt? Isses over oder nicht?
Lasst mich erstmal aus der Vogelperspektive draufschauen, und dann werden wir persönlich. Vogelperspektive bedeutet natürlich wissenschaftlich: Aladin Al Mafaalani, der gegenwärtige Posterboy der Soziologie in Deutschland, hat mal in einem Interview gesagt, dass soziale Gerechtigkeitsbewegungen 3 große Phasen durchmachen, und danach sind sie abgeschlossen. In meinen eigenen Worten gehen die so:
Phase 1: Wir sind gleich und müssen deshalb gleich behandelt werden.
Am Anfang steht immer der Wunsch nach Gleichberechtigung. Im Feminismus zum Beispiel wollten die Suffragetten in England zu Beginn des 20. Jahrhunderts, wie ihr Name schon sagt, das Wahlrecht für Frauen durchsetzen. In der antirassistischen Bewegung wäre das Äquivalent zum Beispiel Martin Luther King, der sich gegen Segregation eingesetzt hat und der Meinung war, Menschen sollten nach ihrem Charakter und nicht nach deren Hautfarbe beurteilt werden. Klar und straight. Wir sind gleich wert, wir sollten gleich behandelt werden.
Phase 2: Wir sind nicht gleich und müssen deshalb anders behandelt werden.
Alle Repräsentationsargumente sind in Phase 2 zu finden. ‚Weil ich XY bin, habe ich eine gesonderte Perspektive, eine andere Perspektive und sollte deshalb gehört werden.‘ 1000 Beispiele dafür gibt es, so heißt es ‚Black Lives Matter‘ und eben nicht ‚All Lives Matter‘.
Phase 3: Lasst uns ‚Wir und ihr‘ kaputt machen
Ein Beispiel, wie das aussehen könnte, wäre der Klassenkampf gegen die Aristokratie. Klingt vielleicht weit weg, aber über Jahrhunderte war das in diesem Land die mit Abstand wichtigste soziale Kategorie. War man adelig oder nicht stand über Allem. Und wenn wir uns heute umgucken: Es gibt zwar theoretisch einen Adel, aber sozial ist das eine komplett irrelevante Kategorie geworden und erst so wurde die soziale Ungerechtigkeit zwischen Adel und Nichtadel aufgelöst.
Ihr merkt: Während die antirassistische Bewegung mitten in Phase 2 ist, steht die Toilettentür im Villakeller mit einem Bein in Phase 3, ‚Gender is over‘, mit einem Bein in Phase 2 ‚Gender is not over‘.
Die fleißigen Leser*innen wissen es ja, ich bin non-binär, männlich gelesen (und sozialisiert).
Und der jetzige Feminismus kann sich nicht einigen, was er mit mir anfangen soll.
Vergangenes Jahr gab es eine Zeit, in der war meine Instagramseite mit 2 Themen voll: Erstens mit dem Spruch ‚Man sieht den Leuten das Geschlecht nicht an‘, der von den genderqueeren Menschen in meinem Umfeld gepusht und auf Demos skandiert wurde, zweitens das feministische Meme, Frauen würden im Wald lieber auf einen Bären als auf einen Mann stoßen.
Da hab ich natürlich gedacht, okay, aber wenn man den Leuten das Geschlecht nicht ansieht, wie entscheidet dann die Person, ob das überhaupt ein Mann ist, gegenüber dem man einen Bären bevorzugen würde? Stellt euch mal vor, das wäre ich, würde ich dann erst gefragt werden, ob ich auch ein cis Mann bin? Ist das überhaupt wichtig? Oder ist es nicht viel wichtiger, dass Frauen eine Gefahr schnell einschätzen müssen, und so, wie sie Menschen lesen, ist wichtiger als der Rest und dann bin ich in dem Beispiel halt bei Mann mitgemeint und fuck my gender identity.
By the way, wenn ihr mich alleine im Wald seht, ist irgendwas Schreckliches passiert. Ich bin in migrantischen Vierteln in Paderborn aufgewachsen, allesamt Betonwüsten, und jeder Migra weiß, dass man sich vom Wald fern halten muss. Da gehen die Deutschen wandern und jagen, da haben wir nichts verloren. Wenn ich also alleine im Wald bin, dann habe ich mich wahrscheinlich extrem verlaufen, kein Handy dabei, bin seit 2 Tagen dehydriert, habe Halluzinationen und brauche dringend Hilfe. Aber das nur nebenbei.
Der Feminismus ist sich also uneinig, ob man Menschen das Geschlecht jetzt ansieht oder nicht.
Ich habe mal einen Slamtext geschrieben, für den ich neben positivem auch vernichtendes Feedback von Feministinnen bekommen habe. Da spreche ich über mein Dasein als non-binäre Person, rege mich darüber auf, dass ich keine förmliche Anrede mehr habe und darüber, wie der Begriff FLINTA* verwendet wird. Denn FLINTA* wird für alles verwendet, ob man es meint oder nicht. Wenn ich zu ner FLINTA*- Lesebühne gehe, fühle ich mich inkludiert, wenn ich auf ne FLINTA*- Toilette (schon wieder Toiletten) gehe, haben alle eine schlechte Zeit. Und ich muss nicht auf ne FLINTA*- Toilette gehen, um meine Geschlechtsidentität zu performen oder mich sicher zu fühlen, aber wenn sich männlich gelesene Transmänner oder unterschiedlich gelesene Personen ständig erklären müssen, warum sie auf ne FLINTA*- Toilette gehen, obwohl sie im Begriff eindeutig drin sind, dann ist das nicht okay.
Kurz: Manchmal wird FLINTA* benutzt, obwohl man etwas Anderes meint. 1 Jahr nach meinem Text hat das Missy Magazine einen Artikel rausgebracht, wo sie genau das thematisieren, dass FLINTA* als Blanket verwendet wird, auch wenn man eigentlich ‚von Misogynie betroffene Personen‘ oder ‚weiblich sozialisierte‘ oder ‚weiblich gelesene‘ oder oder meint. Das hat mich ein bisschen beruhigt: Ich bin nicht der einzige Mensch, den das stört.
Überhaupt fühl ich mich häufiger zerrieben.
Ich habe manchmal den Eindruck, im Feminismus werden männlich gelesene Personen auf einer Übergriffigkeitsskala bewertet und alle deren Handlungen durch dieses Prisma eingeordnet. So würde ein Teil des Feminismus sagen, ich bin durch mein Outing als non-binäre Person weniger übergriffig geworden und habe deshalb Zugang zu FLINTA*- Safespaces, die ich als cis Mann nicht hatte. JK Rowling würde sagen, ich bin übergriffiger geworden durch das Outing, ich hätte mir diesen Zugang zu Unrecht verschafft, und das mache mich zu einem sicken Pervert.
Die Wahrheit ist aber: Nichts davon stimmt. Ich habe mich nicht geändert durch mein Outing, sondern ich habe nach außen kommuniziert, was bei mir im Inneren sowieso los war: Dass ich mich nicht als Mann identifiziere, obwohl ich als das gelesen werde und ich möchte das nicht mehr.
2 Jahre nach meinem Outing muss ich sagen: Ehrlich gesagt bin ich enttäuscht.
Ich werde im Poetry Slam (wo ich sehr offen mit dem Outing bin) immer noch manchmal nicht angefragt, weil sie ‚lieber eine FLINTA*- Person‘ buchen würden, ich lerne manchmal Menschen zufällig kennen und rede mit denen lange, bevor ich darauf hinweise, dass meine Pronomen nicht ‚er/ihm‘ sind und daraufhin bekomme ich eine Entschuldigungstirade und das Gespräch wird nie wieder locker danach, ich werde manchmal als Spokesperson für alle non-binären Menschen gesehen und muss dann alles erklären, obwohl ich selbst längst nicht alles verstehe.
Die Bilanz des Outings ist also: Ich kann meine Großeltern in Russland nicht mehr besuchen, weil es dort im Grunde illegal ist, non-binär zu sein, und in Deutschland werde ich von fast allen Menschen in meinem Umfeld genauso männlich gelesen und behandelt wie vorher, es sei denn, ich oute mich vor denen persönlich und dann bin ich ne Überforderung.
Und deshalb ist mir GENDER ISCH OVER so wichtig: Mir ist klar, dass Gender nicht over ist jetzt, aber ich wünsche mir, dass es irgendwann over ist, ich weiß nämlich nicht, wie man sonst adäquat inklusiv gegenüber TIN*- Personen sein kann und im Übrigen: Historisch gesehen muss Gender erst over sein, bevor es was wird mit der Gleichberechtigung.