Algen und Vergebung #23

Ein fragender Text. Ein Text ohne Antworten.


Der Grund für die ausgefallenen Kolumnen ist der Grund für diese Kolumne. Die Leipziger Buchmesse fand statt, ich habe dort gearbeitet.

Natürlich gehts aber eigentlich um Selbstfindung. Also gut, es wird schon wieder confessional hier. Los geht’s.

Die Vorbereitung

Was habe ich denn auf der Buchmesse gemacht? Ich habe mit Josephine von Blueten Staub die Buchbar moderiert. Unsere Aufgabe war es, kurze Interviews über 4 Tage mit knapp 50 Autor*innen zu führen, ein weiteres Interviewpaar knapp 50 andere Autor*innen.

Josephine und ich haben also je 1 Bücherpaket mit über 20 Büchern bekommen, vom Debut im Self Publishing (also ohne Verlag) bis Büchern, die jetzt gerade in den Top10 der Spiegel- Bestsellerliste stehen. Kochbücher, Kinderbücher, Sachbücher, Romane, Romane, Romane.

Und selbstverständlich habe ich beim Lesen auf eine Sache geachtet, für die ich nicht bezahlt wurde: Schreiben die alle besser als ich? Worüber schreiben denn die anderen überhaupt? Bin ich das wert, dort in einer Linie zu stehen? Selbstfindung im Beruf eben.
Die Antwort ist: Ich weiß nicht. Es gab unglaublich schwach geschriebene Bücher, die sich fantastisch verkaufen, eine Fanbase haben, die mehrere Romane im Jahr erwarten und bekommen, weil sie nämlich nichts lesen wollen, wo sie darüber nachdenken müssen. Bücher, die nur auslösen, dass Leute in Reddit- Foren diskutieren, wie ‚es weitergeht‘. Die dümmste Form von Kunst. So schafft mans in Deutschland auf dem Buchmarkt. Eigentlich noch nicht mal ernüchternd.

Es gab auch Bücher, die waren unglaublich stark geschrieben. Ein Ideenreichtum, Erzähltechniken, es gab Sachen, die ich wirklich witzig fand und nach fast 15 Jahren Poetry Slam findet man eigentlich nichts mehr witzig.

Viele schreiben über Tod, aber immer augenzwinkernd oder mythologisch aufgeladen und bei mir im Roman wird auch gestorben, aber ganz anders. Überhaupt: Ich konnte mich nicht so richtig wiederfinden in den Werken der Anderen. Es gab niemanden, der was geschrieben hat, wo ich dachte: Oh, das ist jetzt aber nah dran an meinem Buch. Vielleicht ist das eine richtig, richtig gute Sache.

So saß ich also da und suchte vorhandene Interviews mit den Autor*innen, blätterte mal mehr mal weniger durch die Werke und dachte mir: Hm, so ist das also.

Zur Ablenkung gabs YouTube- Videos en masse, aber dazu später mehr.

Die Buchmesse

Donnerstag morgen. S- Bahnhof Connewitz. Ich im Sakko. Der Rollkoffer mit den abgenutzten Rollen voller Bücher. Ab jetzt wird interviewt bis zur Erschöpfung, 4 Tage lang. 4 Abende lang wird gesocialized, Autor*innen & Freund*innen aus dem ganzen Land, sie kommen alle nach Leipzig über diese Tage. Ich weiß schon, die Buchmesse existiert nur wegen Konsum, aber ein schönes Nebenprodukt bin ich, der sein Glück nicht greifen kann, ausgerechnet in einer Stadt mit Buchmesse Autor geworden zu sein.

Ein paar Highlights von den Interviewten.

1. Ein Genre, was ich neu entdecken durfte ist New Adult. Romance für Leute um die 20. Damit kann man sehr erfolgreich werden. Ich habe nach ner Sexstelle gesucht, um zu gucken, wie das geht. Ich wurde nicht enttäuscht: In einem Kapitel stand man schon an der Wand und hat sich überall angefasst. Sie ist die Erzählerin, er hat einen eregierten Penis und sie beschreibt diesen, als, Trommelwirbel: Die Härte. Genau. Die Härte. Die Härte hier, die Härte dort. Wenn das jemand zu mir sagen würde in dieser Situation, dann würde abgebrochen werden und dann müsste man erstmal diskutieren. Dieser Ausdruck wird mich verfolgen ab jetzt, ich werd von mir aus dran denken müssen beim Sex und diesen Begriff wollte ich euch schenken.

2. Selbige Autorin hat in 10 Minuten Interview sowohl erzählt, dass ihre Romane und Charaktere (die schwer traumatisiert und psychisch krank sind) sehr authentisch erzählt werden und, dass sie selbst aber eigentlich keine Selbstzweifel hat. Na ja.

3. Ulrike Anna Bleier hat es geschafft, mich zu überraschen. Nach ein paar Leseseiten dachte ich mir: Was ist denn hier los? Die Kapitel sind kürzer als eine Seite, es werden laufend neue Charaktere eingeführt. Das hängt doch alles nicht zusammen. Bis ich gemerkt habe: Die hat ne neue Erzählform gefunden! Hier brauche ich gar nicht nach einer Protagonistin oder einer Haupthandlung zu suchen. Weil es so viele Charaktere sind, überschneiden sich die Ereignisse zwischen ihnen ganz automatisch und immer wieder. Bleier sagt, sie wollte ein Buch ‚über alles‘ schreiben und ich sage: Sie ist ganz nah dran. Es heißt: ‚Spukhafte Fernwirkung‘ (ein Albert Einstein- Zitat, wo er mal daneben lag und der Titel ist aus Gehässigkeit gewählt) und auf spukhafte-fernwirkung.de gibt es eine Roman-App, in der ihr unter Anleitung auch kurze Kapitel einsenden könnt, bis wirklich alles erzählt wurde. Macht mit.

4. Michael Stavaric hat ‚Das Phantom‘ geschrieben, ein Buch, in dem der Protagonist ein Pseudoprotagonist von Thomas Bernhard ist. Das heißt, es wird richtig hilarious gehasst, alles, sich selbst und die Anderen. Sassyness als Buch. Der Protagonist ist in Ohnmacht gefallen und wird eine halbe Stunde später wieder zu Bewusstsein geholt. Das Buch ist das Leben, was an ihm in diesem Nahtodmoment vorbeizieht. Also das ist ja mal was Interessantes!

Die Nachwirkung

Es gab nur eine Veranstaltung außerhalb des Messegeländes, die ich mitgemacht habe und das war eine kleine Literatur- Show am Sonntag Abend nach der letzten Schicht. Wir saßen da zu viert, haben ein Gespräch geführt und zwischendurch Texte gelesen. Zwei der Menschen sind non-binär und haben sich darüber unterhalten, als non-binäre Autorpersonen auf der Bühne zu stehen und ich habe nicht viel dazu sagen können, stattdessen begann ein Regen in meinem Kopf. Was für einer? Es gibt ja ‚Auf der Suche nach der verlorenen Zeit‘ von Marcel Proust, vielleicht der wichtigste Roman des frühen 20. Jahrhunderts aus Frankreich, der beginnt damit, dass der erwachsene Protagonist eine Madeleine in seinen Tee taucht, reinbeißt, und der Geschmack ist genau der Geschmack von den Madeleines, die er als kleines Kind gegessen hat und daraufhin zieht sein ganzes bisheriges Leben an ihm vorbei. Das ist mir passiert.


Aber erst einen Schritt zurück. Ich habe ja gesagt, als Ablenkung bei der Vorbereitung zur Buchmesse habe ich YouTube- Videos en masse geschaut. Eine der wichtigsten Denkerinnen in den vergangenen Jahren ist die YouTube- Essayistin Natalie Wynn (ContraPoints), und sie hat vor wenigen Wochen ihr erstes Video seit fast einem Jahr hochgeladen. Klar, das habe ich gesehen, dann habe ich ältere Videos gesehen, dann bin ich auf den nächsten Kanal gehoppt, PhilosophyTube von Abigail Thorn, zwischendurch Interviews mit Kim de l’Horizon, der Roman ‚Blutbuch‘ ist auf Platz 1 meiner Liste der zu lesenden Bücher, und dann schaue ich mir gerne vorher schon ein bisschen was an.

Was die 3 verbindet? Allen wurde meines Wissens nach bei Geburt das männliche Geschlecht zugewiesen, keiner der 3 ist ein Mann: De l’Horizon ist non- binär, Wynn und Thorne Transfrauen. Ich habe das ursprünglich nicht deshalb geschaut, und die 3 reden ja auch über ganz andere Sachen, aber eine Frage wurde immer lauter: Das geht also auch? Das könnte also auch ich sein?

So saß ich da bei der Literatur- Show und dachte: Vielleicht will ich gar kein Mann sein. Das würde so viel erklären.

Ich hatte, wie in de l’Horizons Roman, als Kind traumatisierende Situationen mit Frauenkleidern und Lippenstiften, ich bekomme seit der Pubertät Kommentare (meist harmlos), die mir meine Männlichkeit absprechen und das Verrückte ist: Sie tun mir nicht weh, irgendwas freut sich sogar. ‚Bei dir wurde das Geschlecht aber auch kurz vor der Geburt nochmal geswitcht‘, ‚Wenn du betrunken bist, tanzt du wie eine Frau‘, ‚Warum hast du eine Protagonistin in deinem Roman. Warum, Boris, Warum?‘

Kann ich nicht einfach ein Scheißmann sein, der so ist, wie ich? Warum fühlt sich das auch nicht fantastisch an? Wieso ist so wenig Identifikation mit dem Geschlecht vorhanden? Warum habe ich neidisch auf Josephine rübergeschaut bei der Buchmesse, sie konnte gefühlt anziehen, was sie wollte und ich war ans Sakko geheftet? Warum habe ich so lange erzählt, wie viele Klamotten aus der Frauenabteilung ich habe, wenn sie doch eh alle ‚unisex‘ aussahen?

Es gäbe darauf eine Antwort: Ich will kein Mann sein, aber sicher bin ich mir nicht. Vielleicht slidet die Geschlechtsidentität ja auch so rum bei mir, wie ein Tropfen Öl auf heißem Wasser. Oder war es ein Tropfen Wasser auf heißem Öl? Eine Antwort gibts hier nicht, denn das ist: Ein fragender Text. Ein Text ohne Antworten.

Ein Gedanke zu „Algen und Vergebung #23

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